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Nerdpol

Tumor im Hormonzentrum: Emmas Tränen an der Treppe

30. Dezember 2020

Ein Tumor beschädigte das Hormonzentrum im Kopf der zehnjährigen Emma. Seither nimmt sie täglich Hormone, um zu überleben. Verändert sie das als Mensch?

 

AUTOR: BARBARA ESSER

MEDIUM: FOCUS GESUNDHEIT

Emma war vier, als ihre Eltern sich zu fragen begannen, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Dass es an den Hormonen liegen könnte – wer denkt an so was bei einer Vierjährigen? Auf einmal wollte Emma, die, ebenso wie ihre Eltern, in Wirklichkeit anders heißt, keine Treppen mehr steigen. Blöd, wenn man im vierten Stock Altbau ohne Lift wohnt. Heulend saß sie auf den Stufen. „Ich geh keinen Schritt mehr!“, verkündete sie. Vielleicht nur das Trotzalter? Aber dann diese Schlappheit. Ständig war Emma müde, lustlos. Auf der Wachstumstabelle an der Garderobentür klebten die von den Eltern alle paar Monate angebrachten Messstriche dicht aneinander. Emma wuchs kaum mehr.

In der Kita zog sie sich gerne in eine Ecke zurück und spielte mit kleinen Kieselsteinchen. Stundenlang konnte sie so sitzen, still und versunken in ihrer zusammen geschnurrten Welt. Toben, klettern, Fangen spielen – Emma mochte das nicht mehr.  Zuhause offenbarte sie eigentümliche Essensvorlieben. Am liebsten nur noch Nudeln mit Pesto, aber unbedingt unvermischt. Und Wasser, Wasser, Wasser. Emma entwickelte einen unbändigen Durst. Zwei bis drei Liter am Tag kippte das zierliche Mädchen in sich hinein, wurde panisch, wenn man unterwegs nichts zu trinken dabei hatte. Auch nachts musste jetzt immer eine Flasche Wasser neben ihrem Bett stehen. Jeden Morgen war sie leer. Keine Nacht ohne Toilettengänge mehr, irgendwo muss das Wasser ja hin.

Natürlich machten sich die Eltern Sorgen. „Ihre Haut veränderte sich“, erzählt die Mutter Bettina Ahrens. „Sie wurde plötzlich weiß und sehr weich. Man fragt sich: Stimmt da was nicht oder ist das alles nur Einbildung?“

Leider war es keine. Ein Jahr später, nach einigen diagnostischen Verfahren, die unter anderem Diabetes mellutis ausgeschlossen hatten, kam Emma in einem Münchner Krankenhaus in die Kernspin-Röhre. „Kein Wunder, dass es Ihrer Tochter nicht so gut geht“, teilte die Radiologin der Mutter im Beisein der Tochter mit. „Sehen Sie mal, sie hat ja einen Gehirntumor.“

Danach, sagt Bettina Ahrens, sei alles im Nebel gewesen. Die verstörte Tochter erst mal nur von dieser grobfühligen Ärztin wegbringen, den Partner anrufen und versuchen, das Unfassbare zu begreifen.

Emma hat ein sogenanntes Kraniopharyngeom, eine Fehlbildung im Kopf, die auf falsch entwickeltes Gewebe zurückgeht. Im Innersten ihres Gehirns war eine Geschwulst gewachsen. Kein bösartiger Tumor zwar, aber dennoch fatal, weil er auf das wichtigste Hormonzentrum drückt. In den benachbarten Hirnarealen Hypophyse und Hypothalamus werden Hormone gebildet und gesteuert, die für Wachstum, Gewichtsregulation, Pubertätsentwicklung und Flüssigkeitshaushalt verantwortlich sind (s.Kasten). Die Ausfallerscheinungen dieser Hormone hatten sich bei Emma schon bemerkbar gemacht. Auch der Sehnerv kann durch die Geschwulst so nachhaltig verletzt werden, dass die Betroffenen erblinden.

Von einer Million Kindern entwickeln statistisch gesehen etwa zwei ein Kraniopharyngeom, das immer an dieser zentralen Stelle auftritt und in der Regel unmittelbar nach Entdecken operativ entfernt werden muss. Manche Neurochirurgen öffnen dafür den Schädel und extrahieren mit dem Tumor zumeist auch Teile der Hypophyse. Bei Emma wurde die viereinhalb Zentimeter große  Geschwulst über einen Zugang durch Nase und Stirn in einer fünfstündigen Operation entfernt. Seither hat Emmas Hypophyse ihren Dienst beinahe ganz eingestellt, so richtig überprüfen kann man das nur mit sehr riskanten Tests. Zwar ist sie noch vorhanden, aber sie arbeitet derzeit kaum noch.

In einer Welt ohne künstliche Hormone, vor 100 Jahren, wäre Emma zwei Tage nach der Operation infolge des Hormonmangels gestorben. So aber lebt sie ein ziemlich normales Leben. Allerdings muss sie – just um diese Normalität zu wahren – tagtäglich künstliche Hormone schlucken und spritzen müssen. Morgens fünf 7 Milligramm Hydrocortison, 10 Milligramm des Antidiuretischen Hormons ADH, das den Wasserhaushalt und die Nierentätigkeit reguliert  und 75 Milligramm des Schilddrüsenhormons L-Tyroxin.

Abends noch mal ADH, damit sie die Nacht durchschlafen kann und nicht alle drei Stunden aufs Klo muss. Zusätzlich muss jeden Abend das Wachstumshormon Somatropin in den Oberschenkel gespritzt werden – aus einem Pen, der in der Kühlschranktür neben den Milchtetrapacks lagert.

Allein das Wachstumshormon kostet im Monat gut 2000 Euro. Emma muss oder darf es spritzen, bis sie die Grenze zur Kleinwüchsigkeit in Höhe von 156 Zentimetern hinter sich gelassen hat. Ob die Krankenkasse danach weiter bezahlt, ist noch nicht klar. „Wir wünschen uns das“, sagt der Vater Holger Ahrens. „Schließlich wäre Emmas familiäre Normgröße 174 Zentimeter. Außerdem ist das Wachstumshormon wichtig für die Entwicklung der Leber, des Gehirns und der Knochen.“

Die tagtäglichen Hormongaben gehören zum Alltag der Familie Ahrens. Emma verträgt sie gut, sie hat sich an die Tabletten gewöhnt und nimmt sogar die allabendliche Spritze tapfer hin. Mittlerweile setzt sie sich diese auch schon mal selbst. Und doch haben die künstlichen Hormone das Leben der Familie verändert. Haben sie auch Emma verändert?

Das verstaubte Glas mit den gesammelten Kieselsteinchen steht im Regal hinterm Esstisch, ein Relikt aus der Zeit, als Emma noch das Mädchen war, das zurückgezogen in der Ecke saß. Wie verwandelt sie heute, fünf Jahre später ist. Die Zehnjährige ist die vier Stockwerke bis zur Dachwohnung der Eltern mit ihrem Ranzen hoch gestürmt. Sie erzählt sprudelnd, gestikulierend, immer in Bewegung. Heute war ein doofer Tag in der Schule. In der Pause wollte niemand mit ihr spielen, das gibt’s schon mal. „Ich war traurig, musste weinen, eigentlich hätte ich da eine von den Stresskapseln nehmen sollen, aber da habe ich nicht dran gedacht“, plappert Emma. Es sei dann auch so gegangen.

Die „Stresskapsel“, das sind zwei Extra-Milligramm des Stresshormons Hydro-Cortison. Emma hat sie immer dabei, für besondere Situationen, in denen ihr Körper eine Extra-Dosis braucht, um damit klar zu kommen. Vor der Mathe-Probe nimmt sie schon mal die doppelte Morgendosis. Vor der Fahrradprüfung gibt es drei Milligramm extra. Auch wenn sie sich in den Finger schneidet und das Blut fließt, schluckt sie schnell eine Kapsel. Bei positivem Stress muss sie sich genauso wappnen. Kindergeburtstag, Klassenausflug, der Besuch der Oma, die Übernachtungsparty bei einer Freundin – mit etwas mehr Cortison im Körper lässt sich das besser bestehen. Es hört sich fast ein bisschen wie Doping an. Aber natürlich ist es das nicht.

„Wir ahmen damit nur nach, was die Natur machen würde“, sagt der Kinder-Endokrinologe Achim Wüsthof, der am Hamburger Endokrinologikum Kinder wie Emma betreut und hormonell einstellt. In Stresssituationen – positiven und negativen – schüttet der Körper Cortisol aus (bei körpereigenem Hormon spricht man von Cortisol, bei zugeführtem von Cortison). „Wenn jemand mit Cortisol-Mangel in eine Notsituation gerät und nicht seine Menge bekommt, kann das lebensbedrohlich sein“, erklärt Wüsthof. „Es kann es zu einem deutlichen Blutdruck- und Blutzuckerabfall führen, Fieber, Zittern und Schocksymptomen, die tödlich enden können.“ Für extreme Notfälle – einen Unfall etwa – führen Emma und ihre Eltern immer ein SOS-Zäpfchen mit 100 Milligramm Hydrocortison mit sich. Dazu einen Patientenausweis, der behandelnde Ärzte darauf hinweist, sofort  Cortison zu geben – nicht unbedingt das Erste, was ein Notfallmediziner bei einem Menschen in Schocksituation tun würde.

Dass Hormonsubstitution gerade bei Kindern immer noch so angst- und mythenbesetzt ist, verwundert Endokrinologe Wüsthof, selbst Vater von fünf Kindern. „Die Hormonbehandlung will nur wiederherstellen, was der liebe Gott ohnehin vorgesehen hatte. Man verändert nicht, sondern man normalisiert den Körper.“ Klar sei Emma heute anders. „Aber sie ist so, wie sie von der Genetik angelegt ist“, ist Wüsthof überzeugt.

In den vergangen anderthalb Jahren ist Emma Ahrens 16 Zentimeter gewachsen. Mit 1,40 Meter ist sie erstmals seit Jahren nicht mehr die Kleinste in ihrer Klasse. „Ich habe mehr Kraft und bin schneller geworden im Rennen“, sagt sie. Das käme von den Wachstumshormonen. Aber sie sagt auch: „Wenn ich zu viel Corti genommen habe, merke ich: ich werde hippel hippel.“

So einfach ist es eben doch nicht, die komplexen Nuancen eines gesunden Hormonhaushalts nachzuahmen. Bei der Dosierung müsse man sich, beschreibt es Wüsthof, „feinsinnig herantasten und auch auf das Naturell des Patienten abstimmen. Einen Leistungsportler wird man anders einstellen als einen Schachspieler.“ Natürlich gibt es Richtwerte. L-Tyroxin, Somatropin und ADH bemessen sich nach dem Körpergewicht. Cortison wird nach der Körperoberfläche bemessen. Man gibt 10 – 12 Milligramm pro Quadratmeter Körperoberfläche. Diese berechnet sich in Gewicht mal Größe in Zentimetern geteilt durch 3600 und davon die Wurzel. Emma hat danach 1,08 Quadratmeter Körperoberfläche, ihre Tagesdosis könnte danach bei 10-12 Milligramm liegen. Meist nimmt sie weniger.

Zu hoch dosiert, kann Cortison zu starkem Übergewicht, Muskelabbau und Knochenentkalkung führen. Viele der Kinder, die wegen Hypophysen-Insuffizient Cortison einnehmen müssen, sind stark übergewichtig. Emma ist nach wie vor sehr schlank.

Die Dosierung, sagen ihre Eltern, sei zuhause permanent ein Thema. Als überzeugte Anwenderin der Homöopathie habe sie erst einmal „den Schalter umlegen und verstehen müssen, dass Emmas Körper diese Hormone braucht“, räumt Bettina Ahrens ein. Anfangs habe sie instinktiv immer versucht, möglichst wenig Hormone zu geben. Heute sei sie da lockerer. „Wir dosieren oft intuitiv nach der jeweiligen Situation.“

Vielleicht noch eine „Mini“ nehmen, weil sie heute so viel Durst hat? Eine „Corti“, weil die Stirn so heiß ist oder eine Flugreise ansteht? Einmal hatte Emma auf Reisen eine wohl durch Hormonabfall bedingte Krise. Sie klagte erst über Kopfschmerzen, Übelkeit, dann sackten Kreislauf und Laune ab. Anzeichen eines akuten Cortisolmangels. Emma schrie, sie könne nicht mehr, wurde panisch, war kaum zu beruhigen. Die Cortisonkapsel half dann – vielleicht auch Bedrohliches zu vermeiden, wer weiß das schon. „Man will das nicht drauf ankommen lassen“, sagt Vater Holger. Trotzdem sei das nicht „wie ein Radio, wo man an den Knöpfen dreht, damit der Empfang wieder klar ist.“ Natürlich kann man nicht immer mit der Pille anrücken, manchmal muss es auch eine klare Ansage sein. Oft, wenn Emma aufbraust und ihren Vater anbrüllt, brülle der zurück, erzählt Emma. „Der Papa ist da streng.“

Emmas Geschwulst ist wieder nachgewachsen. Das passiert ab und an bei Kraniopharyngeom-Patienten. Anderthalb Jahre nach der ersten OP wurde sie erneut operiert, drei Monate später war der Tumor wieder da. Bei der dritten OP wurde ein Katheter gelegt, der die Flüssigkeit aus dem zystischen Tumor in das Hirnwasser ableitet. Seither hat sich die Geschwulst nicht mehr vergrößert. Verkleinert aber auch nicht. „Wir leben von MRT zu MRT“, sagt die Mutter. Alle drei bis vier Monate muss Emma in die Röhre, alle drei Monate geht sie zur Blutabnahme und Hormonkontrolle zum Endokrinologen.

Irgendwann in den nächsten zwei, drei Jahren wird wohl der Tag kommen, an dem Emmas Eltern und ihr Endokrinologe in Absprache mit ihr beschließen, dass es nun an der Zeit ist, in die Pubertät zu starten und die weiblichen Geschlechtshormone zuzuführen. „Uns ist wichtig, dass er Wunsch von den Jugendlichen ausgeht“, sagt Kinder-Endokrinologe Wüsthof. „Wir schauen, wann die Eltern und Geschwister in die Pubertät gekommen sind. Wichtig ist, dass man niemandem etwas überstülpt.“

Natürlich wird auch Emma sich dadurch verändern – wie alle Kinder in der Pubertät. Natürlich sind daran auch die Hormone beteiligt, wie bei jedem Pubertierenden. „Aber zu meinen, dass nur die Hormone den Menschen verändern, ist Quatsch“, beharrt Wüsthof und erzählt, dass er vor einigen Jahren als Gutachter in einem Mordprozess gegen einen jungen Mann auftreten musste, der wegen Kleinwüchsigkeit mit Wachstumshormonen behandelt worden war. Die Verteidigung plädierte, der Mann sei wegen der Hormongaben zum Mörder geworden. Sei praktisch nicht mehr er selbst gewesen. „Das ist schlichtweg Blödsinn“, sagt Wüsthof. Davon hat der Hormonexperte auch den Richter überzeugen können. Der Täter sitzt heute ein.

„Hormone müssen oft als Erklärungsmuster dafür herhalten, dass etwas nicht so läuft wie es laufen soll“, beklagt Wüsthof. Dabei sei just das Gegenteil der Fall: „Wenn jemand nicht die richtigen Hormone bekommt, dann kann er nicht so sein, wie er von Natur aus sein müsste.“

Emma sitzt vor dem Hamsterkäfig in ihrem Zimmer. Manchmal, wenn sie sich schlapp fühlt oder auch zu aufgedreht, schaut sie dem kleinen Zwerghamster zu, wie er in seinem Hamsterrad auf der Stelle rennt. Oder streichelt ihm über das angoraweiche Fell. Das hilft oft mehr als eine Kapsel Corti. Ob die Hormone sie wohl verändert haben? Emma blickt auf, denkt einen Moment nach und sagt dann bestimmt: „Ich glaube, ich bin jetzt so, wie ich eigentlich bin.“ Ein schöner Satz ist das.

 

 

Über unsere Autorin

 

BARBARA ESSER

Schwerpunkte:
Medizin, Wirtschaft, Psychologie, Nachhaltigkeit

Qualifikation:
Volontariat, Ressortleiterin, Textchefin, Redaktionsleitung
Studium der Politikwissenschaften u. Psychologie

 

 

Krautreporter: Das Upcoding-System

19. Juni 2019

Asthma statt Erkältung, Bluthochdruck statt Stress, Depression statt Stimmungstief: Ärzte tricksen gerne bei der Diagnose, auf Druck der Krankenkassen. Das beschert ihnen und den Kassen mehr Geld, aber den Betroffenen oft großen Ärger. Schuld ist ein System, das eigentlich für mehr Gerechtigkeit sorgen sollte.

 

AUTOREN: NINA HIMMER, DR. LISA AUFFENBERG & FRANZISKA DRAEGER

ZUM ORIGINAL

Stell dir vor, du gehst zum Arzt. Keine große Sache, bloß eine fiese Erkältung. Aber der Husten hält sich hartnäckig, und du fühlst dich abgeschlagen. Der Arzt überprüft die Lungengeräusche mit einem Stethoskop, verordnet Schleimlöser und schreibt ein Mittel zum Inhalieren auf. Wenn sich die Beschwerden nicht bessern, sollst du einen Allergietest machen. Doch bald sind die Symptome verschwunden und die Sache vergessen.

Vermutlich hättest du nie wieder daran gedacht, wärst du nicht beim Ausfüllen von Unterlagen für eine Versicherung über eine Zahlenfolge gestolpert, hinter der sich die Diagnose „Asthma bronchiale“ verbirgt. Eben noch warst du eine Person ohne nennenswerte Vorerkrankungen. Jetzt hast du auf dem Papier eine chronische Krankheit, die für den Abschluss der Versicherung zum Problem werden kann.

Diese Geschichte gibt es in vielen Varianten. Da ist die Mutter, deren Kind mit einer Salbe gegen einen Insektenstich behandelt wurde, bei dem aber auch die Behandlung einer Angststörung abgerechnet wurde. Da ist der Mann mit den Kopfschmerzen, der vor Gericht gegen eine Depressions-Diagnose vorgeht, weil er davon zum ersten Mal beim Abschluss einer Versicherung erfahren hat. Da ist die Frau mit der Verspannung im unteren Rücken, die zwar nach einigen Stunden Krankengymnastik verschwand, aber trotzdem als Verdacht auf Bandscheibenvorfall in ihrer Krankenakte landete.

Seit einiger Zeit häufen sich solche Fälle bei Beratungsstellen für Patienten, wo Betroffene in den meisten Fällen landen. Sie haben eine absurde Gemeinsamkeit: Alle sind zum Opfer einer eigentlich sehr guten Idee geworden.

Der Betrug der Krankenkassen beginnt in den Arztpraxen der Republik

Um den Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen fairer zu gestalten, wurde 2009 der sogenannte morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) eingeführt. Hinter diesem sperrigen Wortungetüm verbirgt sich ein Stück Gesundheitsreform, das auf die Entlastung der Krankenkassen abzielt. Denn: Bei manchen Kassen sind mehr alte und kranke Menschen versichert als bei anderen. Das kostet viel Geld, weil in dieser Gruppe höhere Arztrechnungen anfallen als bei einer jungen und gesunden Klientel. Auf ihren Kundenstamm haben die Krankenkassen dabei wenig Einfluss: Oft ist er historisch gewachsen, außerdem dürfen die meisten Deutschen frei wählen, wo sie sich versichern wollen. Die Kassen wiederum dürfen aus gutem Grund keinen Bürger ablehnen – schließlich soll am Ende niemand ohne Krankenversicherung dastehen.

Das Nachsehen haben in diesem System jene Krankenkassen, bei denen besonders viele alte Menschen oder solche mit schweren und chronischen Krankheiten versichert sind. Sie bleiben auf übermäßigen Kosten für Medikamente, Behandlungen, Operationen und Hilfsmittel sitzen. Um diesen Nachteil auszugleichen, wurden im Zuge der Reform zwei wichtige Änderungen beschlossen: Zum einen sollten künftig alle Kunden mit besonders teuren Krankheiten erfasst werden. Zum anderen sollten die Kassen für diese Kunden Finanzhilfen aus einem Gesundheitsfonds bekommen. Dieser Fonds wurde eigens eingerichtet und finanziert sich aus den Beiträgen der Versicherten und Steuergeldern. Zuletzt betrug er rund 200 Milliarden Euro, die zwischen den 113 gesetzlichen Krankenkassen verteilt wurden.

Aus diesem großen Topf finanzieren sich alle gesetzlichen Kassen. Sie erhalten für jeden Versicherten eine Grundpauschale, die je nach Krankheitsrisiko nach oben oder unten angepasst wird. Dabei gilt: Je älter und kränker die Versicherten einer Kasse sind, desto größer ihr Stück vom Kuchen. Das macht den Gesundheitsfonds zu einer gigantischen Umverteilungsmaschinerie, von der manche Kassen mehr und andere weniger profitieren. Im Jahr 2016 etwa hat die Debeka BKK mit 1.581,42 Euro je Versichertem am wenigsten erhalten, die AOK Sachsen-Anhalt mit 4.080,94 Euro dagegen am meisten. Die Debeka hatte also unter dem Strich die gesündesten Versicherten, die AOK die kränksten – was ihr große Summen aus dem Fonds beschert hat.

Tricksen bei den Diagnosen

Leider führen selbst gute Ideen manchmal zu schlechten Ergebnissen. Der Morbi-RSA stößt in der Praxis an seine Grenzen, weil er viel Spielraum für Missbrauch bietet. Dieses Problem prangerte der Chef der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas, in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung an. Darin bekannte er überraschend freimütig: „Wir Krankenkassen schummeln ständig“ – und belastete damit auch sein eigenes Unternehmen. Jedes Jahr, so Baas, würden Milliarden aus dem Gesundheitsfonds verloren gehen, weil zwischen den Kassen ein Wettbewerb darüber entstanden sei, wer das System am besten manipulieren könne.

Manipulieren heißt in diesem Fall: tricksen bei den Diagnosen. Weil die Kassen mehr Geld aus dem Fonds abschöpfen wollen, als sie tatsächlich für ihre Versicherten brauchen, buhlen sie auf einmal um kranke Patienten – zumindest auf dem Papier. Mit Blick auf die eigene Bilanz sind sie schlicht mehr wert als Gesunde. Der Betrug der Krankenkassen beginnt in den Arztpraxen der Republik. Hier diagnostizieren Ärzte ihre Patienten kränker, als sie sind.

Da wird aus einem leichten Bluthochdruck auf einmal ein schwerer, aus einer Erkältung Asthma, aus einem Stimmungstief eine Depression oder aus einem Hexenschuss „chronischer Schmerz“. Die Statistik zeigt, dass Diagnosen wie diese seit der Einführung des Morbi-RSA stark angestiegen sind. „Chronische Schmerzen“ etwa wurden in den vergangenen vier Jahren doppelt so oft festgestellt, Patienten mit schweren Depressionen sind im gleichen Zeitraum um 60 Prozent gestiegen. Auch Adipositas wird deutlich häufiger diagnostiziert, seit die Krankheit als Kriterium für den Finanzausgleich eingeführt wurde. Experten sprechen von Upcoding, wenn Krankheiten in der Patientenakte verschlimmert werden.

Dazu muss man wissen: Es gibt eine Liste mit 80 Krankheitsgruppen, deren Behandlung als besonders teuer gilt. Sie ist die Grundlage für Extra-Gelder aus dem Fonds. Die Schummeleien zielen deshalb meist darauf ab, eine oder mehrere Diagnosen aus der Liste unterzubringen. In manchen Fällen ist das unproblematisch, etwa bei Krebs, Multipler Sklerose, Schlaganfällen, HIV, Parkinson oder einem Schädel-Hirn-Trauma. Diese Krankheiten lassen nicht viel Interpretationsspielraum zu, man hat sie oder eben nicht. Upcoding ist deshalb unwahrscheinlich.

Anders sieht es mit den großen Volkskrankheiten aus, bei denen die Grenzen zwischen schweren und leichten Fällen fließend sind: Bluthochdruck, Diabetes, Asthma, Osteoporose, Arthrose, Adipositas und Depressionen zum Beispiel. Für diese Krankheiten – die extrem viele Menschen betreffen – existiert eine Grauzone, in der Ärzte ihre Diagnosen unterschiedlich kodieren können. Genau an diesem Punkt besteht die Gefahr eines Missbrauchs. Bei den oben genannten Krankheiten machen kleine Unterschiede bei der Diagnose nämlich schnell 1.000 Euro mehr oder weniger pro Versichertem und Jahr aus. Sprich: Für die Kassen ist es lukrativ, wenn jemand auf dem Papier unter chronischem Asthma oder hohem Blutdruck leidet, in Wahrheit aber keine teuren Medikamente oder Therapien benötigt.

Laut TK-Chef Baas geht es genau um diese Grauzone: „Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten und psychische Krankheiten“, antwortet er im Interview auf die Frage, bei welchen Krankheiten die fehlerhaften Kodierungen am häufigsten vorkommen. Alleine bei der TK habe sich die Zahl der Depressionen in den letzten vier Jahren vervierfacht. „Und das sicher nicht nur, weil Leute kränker werden und das Problem weniger stigmatisiert wird“, so Baas.

Die Krankenkassen zahlen Ärzten Prämien für bestimmte Diagnosen

Warum spielen Ärzte da mit? Vorneweg: Alle tun das sicher nicht. Aber dass Upcoding durchaus gängig ist, haben mittlerweile mehrere Gutachten, Studien, Patientenverbände und Ärzte bestätigt. Darunter auch der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery. Direkt nach dem Baas-Interview sagt er dem Donaukurier: „Es ist gang und gäbe, dass die Kassen anrufen und versuchen, Ärzte dazu zu bringen, Diagnosen nachträglich zu beeinflussen.“ Ähnlich kritisch äußerte sich der Deutsche Hausärzteverband.

Da stellt sich die Frage: Wie genau bringen Kassen die Ärzte dazu, ihnen übertriebene Diagnosen zu liefern? Offenbar nutzen sie dafür unterschiedliche Strategien. Eine davon ist, Ärzten finanzielle Anreize zu bieten. Zum Beispiel über Bonuszahlungen oder pauschale Prämien für bestimmte Diagnosen, die drei bis zehn Euro mehr pro Patient bringen. Das klingt wenig, läppert sich mit der Zeit aber.

Ein anderes Mittel sind sogenannte Betreuungsstrukturverträge. Diese Verträge sehen für teilnehmende Ärzte zusätzliche Vergütungen vor, ohne dass sie dafür eine konkrete Leistung erbringen müssen. Offiziell ist darin schwammig von einer „erhöhten Betreuungsintensität“ oder „zusätzlichem Betreuungsaufwand“ die Rede. Doch letztlich geht es schlicht um lukrative Diagnosen. Dafür spricht, dass in den Verträgen oft ausschließlich die 80 Krankheiten aus der Liste aufgeführt sind, wie eine Studie des unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstituts für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen (IGES) belegt. Die Forscher haben ausgerechnet, dass die Kassen jährlich wohl rund 291 Millionen Euro nur für solche Strukturverträge ausgeben. Geld, das in die Taschen der Ärzte fließt, obwohl es zur Patientenversorgung gedacht ist. Mittlerweile wurden solche Verträge als rechtswidrig eingestuft, sie existieren allerdings – mit leichten Anpassungen – weiterhin.

Abseits dieser zusätzlichen Vergütung forcieren die Kassen die gewünschten Diagnosen, indem sie die Ärzte anrufen oder besuchen, um über Patientenakten zu sprechen und Kodierungen „anzupassen“ und „zu optimieren“. Offenbar haben manche Kassen ganze Abteilungen, die auf das Thema spezialisiert sind, und beauftragen externe Dienstleister, die zu den Ärzten geschickt werden. Dort bieten sie „Kodierberatungen“ oder spezielle Praxis-Software an, um das „korrekte“ Kodieren zu erleichtern.

„Wir haben regelmäßig Leute von den Kassen in der Praxis, die über Fälle sprechen wollen“, bestätigt Maximilian Micka aus dem bayerischen Pfakofen. Der Hausarzt ist überzeugt, dass viele Ärzte der Aufforderung der Kassen nachkommen. Sei es, um den zeitraubenden Besuchen und Anrufen der Kassen zu entgehen, mehr Geld zu kassieren oder schlicht, weil sie auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen sind. „Niemand will es sich mit den Kassen verscherzen, weil es in vielen Fällen um den guten Willen geht“, sagt Micka.

Dazu muss man wissen: Die Kassen können von den Ärzten Regress fordern, wenn eine Behandlung nicht zur Diagnose passt. In diesem Fall müssen sie selbst für die Behandlungen aufkommen – was sehr teuer werden oder sogar zur Insolvenz der Praxis führen kann. „Das ist ein ebenso gutes wie dezentes Druckmittel, das die Kassen da in der Hinterhand haben“, sagt Micka. Explizite Drohungen oder Aufforderungen brauche es da nicht, alle sprächen hübsch und freundlich von einer „Optimierung der Kodierung“.

Vier von fünf Ärzten seien schon von den Kassen „kontaktiert“ worden

Zunächst wenig. Mehrfach haben wir die Kassenärztliche Bundesvereinigung für eine Stellungnahme kontaktiert – inklusive aller Landesverbände. Von manchen ist bekannt, dass sie heikle Betreuungsstrukturverträge mit den Kassen abgeschlossen haben. Wir wollten wissen, wie der Verband dazu steht und welche Erfahrungen seine Mitglieder mit den Krankenkassen gemacht haben. Statt Antworten bekamen wir abwiegelnde E-Mails. Darin heißt es pauschal: „Der Wettbewerb der Krankenkassen darf sich nicht in den Arztpraxen niederschlagen, weil bestimmte Kassenarten ein Interesse an bestimmten Diagnosegruppen haben. Mehr werden wir als Kassenärztliche Bundesvereinigung zu diesem Thema nicht beisteuern können.“

Also haben wir direkt in Praxen nachgefragt und doch einige Ärzte gefunden, die etwas beisteuern wollten. Die deutlichsten Worte findet auch hier Allgemeinmediziner Micka: „Die Damen und Herren der Kassen schicken uns regelmäßig ihre Angestellten ins Haus, um unser Kodierungsverhalten zu beeinflussen.“ Einmal pro Quartal stehe zum Beispiel der AOK-Vertreter auf der Matte. „Als er das erste Mal aufkreuzte, hatte er eine Liste mit etwa 200 Patienten dabei, über deren Diagnose er nochmal sprechen wollte.“ Anfangs sei seine Wut darüber groß gewesen – auch, weil ihm medizinische Laien in seine Arbeit hineinreden wollten. Mittlerweile nutze er aber die Vorteile des Kodierens aus, um sauber zu dokumentieren und seinen Patienten die beste Behandlung nach den Spielregeln der Kassen zu ermöglichen. Den Fehler sieht er nicht bei den Ärzten, sondern im System: „Wenn Kopfgelder für Kobras gezahlt werden, um einer Plage Herr zu werden, muss man sich nicht über Kobrazuchtfarmen wundern.“

Auch der in Heidelberg niedergelassene Arzt Gunter Frank hat Erfahrungen mit Upcoding gemacht. Ihm sei aufgefallen, dass immer mehr Patienten mit fragwürdigen Diagnosen und Verschreibungen in seinem Wartezimmer sitzen. „Wenn ich dann ihre Blutwerte und die Wechselwirkungen zwischen den Mitteln prüfte, stellte sich oft heraus, dass der Patient gar nicht alle Medikamente benötigt“, sagt er. Früher wären die Kassen daran interessiert gewesen, drastische Diagnosen anzuzweifeln, um unnötige und teure Therapien zu begrenzen. „Jetzt aber sind die ökonomischen Kräfte des Gesundheitsmarkts entfesselt“, erklärt Frank.

Einzelfälle sind das nicht. Einer von der TK beauftragten Studie zufolge gaben 82 Prozent der anonym befragten Ärzte an, schon mindestens einmal von der Kasse zur Beeinflussung einer Diagnose kontaktiert worden zu sein. Seit der Betrugsvorwurf öffentlich im Raum steht, melden sich immer mehr Mediziner kritisch zu Wort. Viele scheinen durchaus erleichtert, dass Upcoding in der öffentlichen Diskussion angekommen ist. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich nach dem Baas-Interview viele Ärzte bei der Staatsanwaltshaft meldeten, die mittlerweile wegen Betrugs gegen einige Kassen ermittelt.

Die Krankenkassen teilen sich in zwei Lager

Mit seinen Anschuldigungen hat TK-Chef Jens Baas eine große Diskussion angestoßen – und sich damit nicht nur Freunde gemacht. Vielen in der Branche gilt er als Nestbeschmutzer. Vor allem aus den Reihen der „großen regionalen Kassen“, die Baas explizit kritisiert hatte, hagelte es Kritik: „Dieser Rundumschlag gegen Ärzte, Aufsichten und Krankenkassen vom Chef der größten gesetzlichen Krankenkasse erstaunt alle“, sagte etwa Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Und fügt hinzu: „Wir fordern schon seit Langem, den Risikostrukturausgleich manipulationsresistenter zu machen.“ Ein verräterischer Satz, mit dem er die Vorwürfe indirekt bestätigt.

AOK-Mann Litsch unterstellt TK-Mann Baas blankes Kalkül: Jahrelang habe die Techniker Krankenkasse um junge und gesunde Menschen geworben – und sorge sich nun schlicht um ihre Finanzen. „Offenbar passt es ihm nicht, dass sich für seine Krankenkasse die Risikoselektion zulasten von chronisch Kranken nicht mehr lohnt. Aber anstelle das einzugestehen, stellt er lieber die Datengrundlage des RSA als hochgradig manipulationsanfällig dar“, meint Litsch. Gut möglich, dass Baas tatsächlich das Wohl der eigenen Kasse im Blick hatte, als er im Interview auspackte. Trotzdem ist ihm anzurechnen, dass er eine Debatte über eine Praxis entfacht hat, die letztlich vor allem den Patienten schadet.

Und: Während die AOK gegen Baas austeilte, sprangen ihm andere Kassen bei. Der Dachverband der Betriebskrankenkassen etwa kommt in einer Stellungnahme zu dem Schluss: „Die finanzielle Schieflage zwischen den Krankenkassen verschärft sich aufgrund massiver Fehlsteuerungen im GKV-Finanzierungsausgleich.“ Der Verband rechnet vor, dass 2016 mit rund 1,5 Milliarden Euro übermäßig viel Geld an die AOK-Kassen geflossen sei, wohingegen andere Kassen eine Unterdeckelung haben hinnehmen müssen. Sie müssen die fehlenden Gelder durch höhere Zusatzbeiträge wieder eintreiben. „Diese Fakten können nicht einfach wegdiskutiert werden“, heißt es in dem Papier, „es bestehe erheblicher Reformbedarf.“

Am Ende die Leidtragenden: die Patienten

Die Kassen teilen sich also in zwei Lager. Die einen bauschen das Problem möglicherweise auf, die anderen streiten es ab. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Dass die Manipulationen stattfinden, steht jedenfalls fest: Die Diagnosen bestimmter Krankheiten sind durch den Morbi-RSA sprunghaft angestiegen, die Betreuungsstrukturverträge zielen nachweislich auf Upcoding ab, Ärzte bestätigen das Vorgehen der Kassen auf breiter Front, und bei den Patientenverbänden suchen immer mehr Betroffene Hilfe.

Der Betrug geschieht auf Kosten der Patienten. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Es sind schließlich ihre Beiträge, die jedes Jahr für üppige Summen im Gesundheitsfonds sorgen. Da mehr Geld abgeschöpft wird als nötig und die Kassen, die bei der Verteilung zu kurz kommen das Geld auf andere Weise eintreiben müssen, steigen die Beiträge. Der Betrug macht die Versicherung also für jeden von uns teurer. Laut TK-Chef Baas geht es bei seiner Kasse dabei aktuell um bis zu 0,3 Prozentpunkte.

Noch härter trifft die Praxis Menschen, die beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung oder bei der Verbeamtung eine böse Überraschung erleben. Oft fliegen falsche Diagnosen dabei auf, weil Behörden und Versicherungsunternehmen den Gesundheitsstatus prüfen. Viele trifft die Ablehnung dann aus heiterem Himmel, weil sie nichts von den Diagnosen in ihren Akten wissen.

Heike Morris von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland kennt das gut: „Wir hatten in letzter Zeit erstmals Anfragen von Patienten, in denen es darum ging, eine Diagnose wieder loszuwerden“, sagt sie und schildert den Fall eines Patienten, der wegen starker Kopfschmerzen beim Arzt gewesen sei. Erst viel später kam bei der Beantragung einer Berufsunfähigkeitsversicherung heraus, dass bei ihm eine Depression diagnostiziert worden war.

„Er versucht nun, vor Gericht dagegen vorzugehen. Das ist aber extrem schwer, weil man seinen damaligen Zustand rückwirkend ja nicht mehr nachprüfen kann“, erklärt Morris. Noch hässlicher wird es, wenn ein bestehender Versicherungsschutz im Fall der Fälle nicht greift, weil die Versicherung Jahre später aufgrund einer fälschlich gestellten Diagnose davon ausgeht, dass der Patient diese wissentlich verschwiegen habe. In solchen Fällen die eigene Unschuld zu belegen, ist fast unmöglich.

Im Zweifel: absichern

Schwerwiegender als der volkswirtschaftliche Schaden ist aber das Spiel mit der Gesundheit der Patienten. Schließlich folgen aus Überdiagnosen möglicherweise unnötige Behandlungen oder Medikamente. Manchmal kommt das bei einem Arztwechsel raus: „Ich habe jahrelang zweimal täglich ein Asthmaspray genommen“, erzählt uns ein junger Patient aus Heidelberg, „und nachdem ich einen anderen Arzt aufgesucht habe, konnte ich es einfach absetzen. Er hat mir versichert, dass ich das Spray nicht brauche. Da fragt man sich schon, wie das sein kann.“

Manchmal nutzen die Überdiagnosen den Patienten allerdings auch. Gerade bei psychischen Krankheiten kann eine übertriebene Diagnose dafür sorgen, dass die Kosten für eine Therapie übernommen werden und der Betroffene schneller einen Therapieplatz bekommt. Manche Ärzte nutzen das gezielt, um ihren Patienten die bestmögliche Behandlung zu verschaffen und nicht erst abzuwarten, bis sich etwa eine Depression verschlimmert.

Eine andere Möglichkeit ist die Zweitmeinung. Wer berechtigte Zweifel an einer Diagnose hat, sollte sich absichern, indem er einen anderen Arzt aufsucht und die Diagnosen vergleicht. Denn was einmal in den Akten steht, ist nur schwer wieder loszuwerden, wie auch Patientenberaterin Edeltraud Paul-Bauer vom Gesundheitsladen Bremen bestätigt.

Nach Bekanntwerden der Vorwürfe gab das Bundesgesundheitsministerium Ende 2016 ein Sondergutachten in Auftrag. Ein Wissenschaftlicher Beirat analysierte dafür die Kodierpraxis und legte im September 2017 erste Ergebnisse vor. Darin heißt es: „Auch wenn die empirischen Ergebnisse dieses Gutachtens keine eindeutigen Beweise liefern können, gibt es Belege für manipulative Aktivitäten der Krankenkassen zur Beeinflussung der Höhe der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds im Rahmen des Morbi-RSA.“ Der Beirat empfiehlt deshalb eine Stärkung der Manipulationsresistenz des Modells, beispielsweise durch die striktere Kopplung von Diagnosen und Therapien.

Noch während der Beirat an dem Gutachten arbeitete, stellte die Deutsche Stiftung Patientenschutz Strafanzeige gegen die Krankenkassen, Transparency International forderte Justiz und Politik auf, den Missbrauch öffentlicher Ressourcen zu unterbinden, und der Interessenverband kommunaler Krankenhäuser warf den Kassen „systematischen Abrechnungsbetrug vor. Vor diesem Hintergrund hat der Bundestag im April 2017 eine erste Gesetzesverschärfung beschlossen. „Krankenkassen oder Ärzte dürfen sich nicht durch unzulässige Beeinflussung von Diagnosen finanzielle Vorteile verschaffen“, heißt es in dem Beschluss. Das kommt einem Verbot von Upcoding gleich. Im Zuge dessen wurden außerdem die gezielte Vergütung von Diagnosen durch Betreuungsstrukturverträge sowie die Diagnosebeeinflussung durch Kodierberatung oder mit Hilfe bereitgestellter Praxissoftware verboten.

Geld gegen Diagnose

Das klingt gut, doch es bleibt ein großes „Aber“: Das schärfste Verbot greift nicht, wenn es nicht gut kontrolliert wird. Und aktuell fehlen die Ressourcen für eine grundlegende Überprüfung des Systems. Viele Experten kritisieren außerdem, dass die Verschärfung zu milde ausgefallen sei – wohl auch auf Druck der Kassen-Lobbyisten, die sich zahlreich in Berlin tummeln. Sie schlagen deshalb härtere Maßnahmen vor, um das Problem in den Griff zu bekommen: Volkskrankheiten ganz von der Liste streichen, jegliche Form von Ersatzverträgen zwischen Ärzten und Kassen verbieten, die Nutzung von Praxis-Software vor Ort überprüfen und bessere Kontrollen durchsetzen.

Dass ihre Sorge begründet ist, unterstreicht eine Studie des unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstituts für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen. Die IGES-Experten kommen darin zu dem Schluss, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend sind. So führe etwa das Verbot von Betreuungsstrukturverträgen schlicht dazu, dass die Kassen auf andere Vertragsarten ausweichen, etwa solche zur „Hausarztzentrierten Versorgung“.

Diese Verträge heißen etwas anders, funktionieren etwas anders – aber am Ende fließt immer noch Geld für bestimmte Diagnosen. Sie zweifeln außerdem an, dass der Fehlgebrauch von Praxissoftware ausreichend kontrollierbar ist, und fordern, dass es Aufsichtsbehörden leichter gemacht werden sollte, Gesetzesverstöße schneller zu finden und zu sanktionieren. Dass das eine gute Idee wäre, zeigt eine andere Untersuchung: Bei einer anonymen Umfrage unter Ärzten, die nach der Gesetzesverschärfung durchgeführt wurde, kam heraus, dass noch immer jeder Fünfte in Sachen Diagnosen von den Kassen kontaktiert wird.

Das Problem ist also noch lange nicht vom Tisch. Wohl auch deshalb hat es Einzug in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung gefunden. Dort heißt es: „Unter Berücksichtigung der Gutachten des Expertenbeirats des Bundesversicherungsamtes werden wir den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich mit dem Ziel eines fairen Wettbewerbs weiterentwickeln und ihn vor Manipulation schützen. Es wird eine regelmäßige gutachterliche Überprüfung gesetzlich festgelegt.“

Noch ist aber nichts Konkretes passiert. Möglicherweise wird die Justiz schneller sein als die Politik: Im September 2017 fanden Razzien bei der AOK Rheinland in Düsseldorf und bei der AOK Hamburg statt, auch gegen Jens Baas, der die Schummelei öffentlich eingestand, ermittelt die Staatsanwaltschaft. „Wir gehen davon aus, dass die Kassen in Höhe von mehreren Millionen Euro von den verfahrensgegenständlichen Abrechnungen profitiert haben“, kommentiert Oberstaatsanwältin Nana Frombach die Beschlagnahmung von unzähligen Morbi-RSA-Unterlagen. Die Ermittler wollen herausfinden, ob die Kassen das Sozialsystem tatsächlich betrogen haben – und in welchem Umfang. Bis sie Ergebnisse liefern, wird der Morbi-RSA wohl weiterhin einer der größten Streitpunkte deutscher Gesundheitspolitik bleiben.

 

Dieser Artikel entstand mit Unterstützung des Wissenswerte-Recherchestipendiums, das jährlich von der Technischen Universität Dortmund gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung vergeben wird.

 

Über unsere Autorinnen

 

NINA HIMMER

Inhaltliche Schwerpunkte:
Medizin & Tiermedizin, Gesundheit, Psychologie, Outdoor- und Klettersport.

Konzeptuelle Schwerpunkte:
Konzeption Printmagazine im Bereich Medizin und Gesundheit, Verknüpfung von Online- und Printformaten, Jugend- und Kinderjournalismus.

Auszeichnungen:
Wissenswerte-Recherchestipendium 2016 | Journalists Network Recherchereise Israel und Palästina 2017 | Lokalsportpreis 2013 | Textbeispiel Storytelling (Buch und Online)

 

 

 

DR. LISA AUFFENBERG

Schwerpunkte:
Medizin, Gesundheit, Psychologie, (Berg-)Sport

Auszeichnungen:
WISSENSWERTE-Recherchestipendium für Medizinjournalisten
Wegweiserpreis für Nachwuchsjournalisten
Stipendiatin im Nachwuchsförderprogramm der Journalisten-Akademie (KAS)
Stipendien der FAZIT Stiftung und der Studienstiftung des deutschen Volkes

faz.net: Die vergessene Seuche

18. Juni 2019

Die Tuberkulose ist die tödlichste Infektionskrankheit. Lange ignoriert wütet der Erreger besonders in Indien.
Lässt er sich noch aufhalten?

 

 

REPORTAGE: CLAUDIA DOYLE UND MATHIAS TERTILT

ZUM ORIGINAL

 

Als Asim Sarder sich aus dem Dorf schleppt, schlafen seine Schwester und seine Eltern noch. Eine Eiterbeule so groß wie eine Milchpackung drückt auf seine Hüfte, jeder Schritt schmerzt. Der Bauer aus dem Osten Indiens, 26 Jahre alt und schmal, besteigt einen klapprigen Bus und holpert Kalkutta entgegen. Stunden später erreicht er die Ambulanz im Armenviertel. Die Sonne sticht. Sarder wartet.

Seine Hoffnung trägt weiße Socken in Sandalen. Tobias Vogt trifft gegen neun Uhr ein. Der deutsche Arzt, Internist aus dem Rheinland, seit mehr als 15 Jahren für die German Doctors in Kalkutta, läuft die Warteschlange entlang, in der Hand ein Stempelkissen. Abgemagerte, ältere Männer dösen auf dem staubigen Boden, Frauen wiegen ihre wimmernden Babys; einige Kranke wurden auf Holzkarren angeschleppt. Alle werden Vogt und sein Team heute nicht schaffen. Der Stempel ist die Eintrittskarte. Vogt zählt und stempelt die entgegen gestreckten Arme, schnell und mechanisch. Bei hundert hört er auf, wendet sich ab und marschiert in Richtung der Baracke, die heute als Ambulanz dient.

Drinnen knetet ein altersschwacher Ventilator die Luft. Vogt, Bürstenhaarschnitt und kurzer Schnauzbart, setzt sich auf einen Plastikstuhl und beginnt mit der Diagnose der ersten Patienten. Nach etwa einer Stunde tritt Asim Sarder ein. Die Männer kennen sich. Vogt hat Sarder schon einmal behandelt, Dezember 2016, Diagnose Tuberkulose. Wenn Vogt seine Patienten wiedersieht, bedeutet das nichts Gutes.

Asim Sarder ist einer von weltweit mehr als zehn Millionen Tuberkulosepatienten, etwa jeder vierte stammt aus Indien. Die Krankheit ist in den westlichen Ländern in Vergessenheit geraten, obwohl das Bakterium mehr Menschen tötet als jede andere Infektionskrankheit. Allein im Jahr 2016 starben 1,3 Millionen Menschen daran. Weil die Forschung vernachlässigt wurde, ist die einzige Impfung schon hundert Jahre alt und wenig effektiv. Für die Behandlung gibt es kaum neue Medikamente.

Sarder musste jeden zweiten Tag Pillen schlucken, insgesamt 1092. Er sagt, er habe es gemacht. Vogt glaubt ihm. Trotzdem haben einige Bakterien die Behandlung überlebt. Nun leidet Sarder vermutlich an multiresistenter Tuberkulose. Im Idealfall kratzt Vogt aus Spendengeldern die nötigen 22 Euro für einen modernen Gentest zusammen, der in nur zwei Stunden herausfinden kann, ob Sarders Tuberkulose bereits gegen bestimmte Antibiotika resistent ist. Doch alle verfügbaren Geräte rattern schon pausenlos durch und es kann trotzdem Wochen dauern. In solch langen Zeiträumen verliert Vogt Patienten und findet sie nie wieder.

In dieser Zeit infizieren sie weitere Menschen mit Mycobacterium tuberculosis. Mit einem Atemzug gelangt das 1882 von Robert Koch entdeckte Bakterium tief in die Lunge. Weil Immunzellen bei der Vernichtung scheitern, bauen sie dem Erreger ein kugelförmiges Gefängnis. Der ruht geduldig in einer Art Schlafzustand. Doch wenn die Mauern aufplatzen, zerfressen die Bakterien das Knochenmark oder nagen sich ins Gehirn. Am häufigsten wüten sie in der Lunge. Die Patienten husten, verlieren ihren Appetit, magern ab. Unbehandelt stirbt jeder Zweite einen langsam schleichenden Tod.

Offiziell gibt es in Indien seit mehr als zwanzig Jahren ein staatliches Tuberkuloseprogramm. Doch die Erfolge sind mäßig. Viele Diagnosen werden nie gestellt, viele Patienten nie richtig behandelt. Hinzu kommt, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) immer mehr resistente Fälle meldet. Bisweilen helfen auch die härtesten Wirkstoffe nicht mehr. Gerade in den Armenvierteln lebt die vergessene Million, die niemals registrierten Tuberkulosefälle. Das überforderte staatliche Gesundheitssystem dringt gar nicht bis in diese Gassen und Seitenstraßen vor, wo die Arbeit der German Doctors beginnt.

Der Jeep biegt von der Hauptstraße ab, fährt langsam rückwärts. Nach einigen Metern verstummt der Motor. Nilima Malliek öffnet die Hintertür des Wagen. Zusammen mit Salma Bibi und Naruan Neesa, beide Ende 20, steigen sie hinaus auf den staubigen Weg. An dessen Ende erheben sich vor den Sozialarbeiterinnen links und rechts zwei große Müllhaufen, in der Gasse dazwischen wühlen unzählige Schweine nach Essbaren und Menschen nach nützlichen Gegenständen. „So leben die Patienten. Alles ist voll mit Dreck und Müll“, sagt Malliek. Sie hält sich ihren lilafarbenen Sari vor den Mund, stapft unerschrocken über das Gemisch aus Abfall und Exkrementen und steigt über ein verwesendes Ferkel.

Oben auf dem Müllberg stehen kleine Verschläge. Hier lebt einer von Vogts vielen Tuberkulose-Patienten. Vor einer improvisierten Baracke aus Bambus und Folienresten bleiben kurz stehen, dann tritt sie ein. Im dunklen Innern ist die Luft stickig, der Gestank durchdringend. Der Patient, ein junger Mann, vielleicht 30, lebt hier mit seiner Frau und vier Kindern. Es ist überall dasselbe, sagt Malliek, fünf, sechs, sieben Menschen auf wenigen Quadratmetern. Wenn hier jemand hustet, dann dauert es nicht lange, bis sich auch die restlichen Familienmitglieder anstecken.

„Wenn wir keine Hausbesuche machen, dann nehmen die Patienten ihre Medizin nicht“, sagt Malliek. Umso wichtiger ist es, die Patienten während der Therapie zu begleiten und zu motivieren. Die Behandlung dauert zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. Das bedeutet bis zu 15.000 Pillen, viele Injektionen und brutale Nebenwirkungen. Viele stehen das nicht durch und brechen ab. Anfangs hat sich Tobias Vogt darüber noch aufgeregt, doch inzwischen sagt er: „Die sind gar nicht nachlässig oder dumm. Die haben einfach so viele Probleme am Hals.“ Der Patient, dem Malliek regelmäßig Essen bringt, ist der einzige aus der Familie, der arbeiten geht. Jetzt als Tuberkulose-Kranker kann er es nicht mehr. So geht es auch vielen anderen. Manche Eltern wissen morgens nicht, was sie ihren Kindern abends auf den Tisch stellen sollen. Jeder Arbeitstag zählt. Da ist es schwer, jeden zweiten Tag zum Arzt zu laufen.

Die Sozialarbeiter wie Malliek sind in den Vierteln aufgewachsen. Genau deshalb hat Tobias Vogt sie rekrutiert. Einer wie ihr, so hofft Vogt, hören die Menschen eher zu als ihm.

Hinzu kommt, dass viele Inder staatliche Krankenhäuser ohnehin meiden. Dort ist die Behandlung zwar kostenlos, aber oft eine Tortur. Patienten quetschen sich in überfüllte Zimmer, aus Platzmangel werden mitten im Flur Katheter gelegt oder Bäuche aufgeschlitzt. Etwa jeder zweite Inder sucht lieber einen der vielen Privatärzte auf, Männer und Frauen, die zu oft nur wenige Semester in Medizin eingeschrieben waren und nicht mehr sind als Quacksalber. Auch in den Armenvierteln, durch die Vogts Sozialarbeiter streifen gibt es solche Ärzte. An Genesenden verdienen sie weniger Geld. Selbst Tuberkulosepatienten verschrieben sie bisweilen nur ein paar Mittelchen, vielleicht heilige Asche oder Kräuter.

Tobias Vogt hat gelernt, dass er die Tuberkulose hier in Kalkutta nicht mehr von seinen Sprechstunden aus in den Griff kriegen kann. Ein Großteil seiner Arbeit fängt dort an, wo der gewöhnliche Arzt aufhört. Schon vor Jahren hat er einen Deal mit den Quacksalbern in seinen Vierteln geschlossen. Für jeden Tuberkulose-Patienten, den sie ihm schicken, bekommen sie ein Trinkgeld. Wenn staatliches und privates Gesundheitssystem besser verzahnt werden, so die Hoffnung im ganzen Land, dann werde man die Tuberkulose besser in den Griff bekommen. Nun will auch die Regierung solche Kooperationen beginnen. Vor allem, um die unkontrollierte Ausbreitung der Resistenzen zu verhindern.

„Robert Koch würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass wir einen gut zu behandelnden Erreger in einen nahezu unbezwingbaren Gegner verwandelt haben“
ZARIR UDWADIA

Einer der ersten, die auf dieses Problem aufmerksam gemacht haben, war Zarir Udwadia. 2012 schockierte der indische Arzt die Fachleute mit Daten seiner Patienten. Deren Tuberkulose-Erreger waren gegen alle damals verfügbaren Antibiotika resistent. „Robert Koch würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass wir einen gut zu behandelnden Erreger in einen nahezu unbezwingbaren Gegner verwandelt haben“, schimpft Udwadia. Der große, schlanke Mediziner hält am Hinduja Hospital in Mumbai eine Tuberkulose-Sprechstunde. Immer öfter sitzen ihm Patienten gegenüber, denen er nicht mehr helfen kann.

Eine davon war die 18 Jahre alte Shreya Tripathi. „Die Ärzte hatten sie aufgegeben“, erzählt Udwadia. „Sie empfahlen ihr Homöopathie, weil es keine geeigneten Medikamente mehr gäbe.“ Doch das stimmte nicht. Es gab zwei neue Wirkstoffe, Delanamid und Bedaquilin. Seit 2014 empfiehlt die WHO den Einsatz dieser Medikamente. Doch in Indien sind sie nur eingeschränkt verfügbar. Wer sie erhalten will, muss einen Antrag einreichen. Die meisten werden abgelehnt.So ging es auch Tripathi. Ihr Tod galt damit als besiegelt.

Anfang vergangen Jahres wog sie noch 25 Kilogramm. „Sie war ein Skelett“, erzählt Udwadia. Doch die Achtzehnjährige machte ihren Fall öffentlich und zog bis vor den Delhi High Court. Mit Gutachten von Udwadia und einer Harvard-Wissenschaftlerin klagte sie darauf, dass ihr die beiden Medikamente zustehen. Stellvertretend für 130.000 Patienten allein in Indien, die multiresistente Erreger in sich tragen, und etwa 2400, die ohne diese Medikamente der sichere Tod erwartet.

Tripathi bekam Recht und gehört nun zu den weltweit fünf Prozent der Patienten mit extremresistenter Tuberkulose, die adäquat versorgt werden. Die indische Regierung zögert aber noch immer mit der Freigabe der neuen Wirkstoffe. Sie will auf jeden Fall verhindern, dass die Waffen sofort wieder abstumpfen. Zarir Udwadia hat dazu eine deutliche Meinung: „Medikamente zurückzuhalten und Leute sterben zu lassen, weil sich theoretisch Resistenzen bilden können, halte ich für kriminell.“

Mittlerweile frisst sich die Krankheit in Indien durch alle Kasten und Schichten. Vielleicht auch deshalb verkündete Gesundheitsminister Jagat Nadda Anfang 2017: „Wir werden Tuberkulose bis 2025 ausgerottet haben“. Das Land will damit das Ziel der WHO zehn Jahre früher erreichen. Das Tuberkulose-Budget wurde verdoppelt. Erstmals seit Jahrzehnten investiert Indien selbst mehr als ausländische Geldgeber. Doch die Skepsis bleibt. „Wir sind sehr gut darin, Versprechungen zu machen“, kommentiert Udwadia. Er kritisiert die Gesundheitsversorgung schon seit Jahren und hat sich daher in Regierungskreisen viele Feinde gemacht.

Fragt man die Regierungsvertreter, die lieber über Pläne statt Missstände sprechen nach ihren Einschätzungen, verrät zumindest ihr Unterton, dass im Land einiges schief läuft. Viele wollen anonym bleiben, nur wenige sprechen Probleme direkt an. „Überall in der Stadt sieht man Plakate zu Malaria und Dengue. Aber zur Tuberkulose sieht man nichts“, erklärt Dr. Murkherjee, ein Berater des Gesundheitsministeriums in Kalkutta, dass es schon am nötigen Bewusstsein für die Krankheit fehlt. Unter dem Stigma leiden die Patienten.

Infizierte Haushälterinnen, Busfahrer und Lehrer verlieren aus Angst vor Ansteckung ihren Arbeitsplatz. Vermieter werfen Familien aus den Wohnungen. Frauen bangen darum, niemals zu heiraten. Wer schweigt, vermeidet die Schikanen. „Die Alten denken immer noch, Tuberkulose sei eine unheilbare Krankheit. Die vertuscht man lieber“, erzählt Tobias Vogt.

Am Nachmittag verlässt der deutsche Arzt die Slumambulanz und fährt zurück ins Tuberkulose-Krankenhaus St. Thomas Home. Die Einrichtung ist immer ein wenig überbelegt. Doch solange die Spendengelder für die Behandlung reichen, will Vogt den Patienten helfen. Wenige Meter über den schwerstkranken Patienten mit extremresistenter Tuberkulose und HIV wohnt Vogt. Seit mehr als zehn Stunden ist er nun auf den Beinen. Wie jeden Tag gönnt er sich fünf Minuten, um sich frisch zu machen, den Schweiß abzuwischen. Dann marschiert er wieder die wenigen Stufen auf die Krankenstation hinunter.

Die Luft wird von unzähligen, surrenden Ventilatoren an den simplen Bettgestellen Richtung Boden gepustet. Am Krankenbett von Nimola Deby bleibt Vogt stehen, spricht ein paar Worte Bengali. Über die lange Behandlungsdauer lernt er die Patienten kennen, weiß von ihren Umständen, ihren tragischen Familiengeschichten. Das macht es nicht leichter, wenn er einigen Patienten trotzdem nicht mehr helfen kann, sagt er.

Er greift das neueste Röntgenbild aus der Krankenakte und klemmt es an eine Lichtwand. In der Lunge sieht er fast keine Flecken mehr. Die Tuberkulose scheint besiegt. Nach mehr als sechs Monaten kann die 32 Jahre alte Mutter diesen Monat wieder nach Hause zu ihrem Mann und ihrer ältesten Tochter. Dass Vogt vielen Menschen mit nur wenig Geld das Leben retten kann, das hat ihn über all die Jahre hierbehalten. Das gesamte Spendengeld fließt in die Behandlung der Tuberkulosekranken. Für viele sind die German Doctors die letzte Hoffnung. Einige schwierige Operationen bei Tuberkulose im Rückenmark bezahlen in der ganzen Stadt nur Vogt und sein Team.

Doch auch wenn Vogt seine Patienten nun entlassen kann, hört die Therapie nicht auf. Sie muss noch mehr als anderthalb Jahre lang Medikamente einnehmen. Aber das soll nun komfortabler werden. Tobias Vogt steht vor einem großen Regal voller Medikamente. Er zieht einen Karton aus einem großen Regal und holt eine Blisterpackung hervor. Die Patienten erhalten künftig eine Monatsladung Pillen. Er drückt eine Tablette heraus und zeigt, wie sich dahinter eine Telefonnummer verbirgt. Wird die angerufen, registriert ein Computer die Einnahme der Tablette. „Das ist ein abgefahrenes System, wir sind uns noch nicht sicher, ob das funktioniert“, sagt Vogt. Die indische Regierung ist optimistischer. Studien hätten gezeigt, dass die Patienten dadurch länger am Ball blieben. Fraglich ist, ob das ausreicht, um nun in nur acht Jahren die Tuberkulose aus Indien zu verbannen?

“Vielleicht wird Tuberkulose irgendwann gestoppt werden, aber nicht mehr solange ich lebe”, sagt Zarir Udwadia. „Zurzeit wird es immer schlimmer, das wird ihnen jeder bestätigen, der direkt mit Tuberkulose-Patienten arbeitet.“ Das gilt womöglich solange, wie man nur auf die Erreger eindrischt, aber die Ursachen der Infektion nicht bekämpft.

In Deutschland ist die Tuberkulose vor hundert Jahren langsam aus dem Alltag verschwunden. Noch bevor das erste Medikament auf den Markt kam. Einfach, weil sich die Lebensverhältnisse gebessert haben. „So könnte das in zwanzig bis dreißig Jahren auch hier sein“, sagt Tobias Vogt. Dann tritt er wieder auf die vielbefahrene Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite sitzt eine ältere Frau auf einem Müllberg und filetiert Fische.

 

Text: Claudia Doyle und Mathias Tertilt
Umsetzung: FAZ.NET-Multimedia
Die Recherche wurde vom European Journalism Centre durch das Deutsche Journalistenstipendien-Programm Globale Gesundheit gefördert.

 

Über unsere Autorin

CLAUDIA DOYLE

Schwerpunkte:
Biologie, Ökologie, Medizin, Bier

Auszeichnungen:
Stipendiatin der Karl-Gerold-Stiftung, finanzielle Unterstützung der Journalistenausbildung | Journalists Network, Recherchereise nach Kolumbien | European Journalism Centre, Recherchereise nach Indien zum Thema Tuberkulose | Journalistenpreis des Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose

 

 

SZ: Unter Strom

19. Februar 2019

Jahrzehntelang leidet Käthe Meier an schweren Depressionen. Keine Therapie hilft, auch Medikamente bringen wenig. Schließlich legen die Ärzte Elektroden an ihren Kopf, ein Krampfanfall bringt Abhilfe. Die Elektrokonvulsionstherapie kehrt in die Kliniken zurück – mit gutem Grund.

 

 

TEXT: JAN SCHWENKENBECHER

ZUM ORIGINAL

 

Es ist 8.56 Uhr, als der Anästhesiepfleger der 71 Jahre alten Frau Propofol und Succinylcholin in ihre Venen spritzt, ein Narkosemittel und ein Muskelrelaxans. Zwei Minuten später wird ihr Körper erschlaffen. Ärzte und Pfleger warten, es ist eng im kleinen, fensterlosen Zimmer im Erdgeschoss der Mainzer Psychiatrie. Ein paar Apparate stehen herum. „60“, sagt der Anästhesiepfleger nach einer Minute, und zählt runter: „40“, „15“. Es ist kurz vor 9 Uhr, als er „wir dürfen“ sagt, der Assistenzarzt eine Hand-Elektrode an den Hinterkopf der Frau hält und auf „Treat“ drückt. 602,8 Millicoulomb schießen ihr ins Gehirn, Milliarden Neurone richten den Takt ihrer Aktionspotenziale auf den Wechselstromaus, feuern gleichzeitig.Die 71-Jährige bekommt einen Krampfanfall.

Eine halbe Stunde vorher saß die ältere Dame in ihrem mit Blümchen bestickten Nachthemd auf der Kante ihres Bettes auf Station 4, ihre Füße baumeln in der Luft. Ein Vorhang fängt die Blicke umherlaufender Patienten, wenigstens ein bisschen Privatsphäre hier in der Mainzer Psychiatrie. Ihr Name? „Schreiben Sie Meier. Meier, Käthe“, sagt sie. „Das muss ja nicht jeder mitbekommen.“

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Über unseren Autor

 

JAN SCHWENKENBECHER

Schwerpunkte:
Psychologie, Neurowissenschaften, Technik

Qualifikation:
Psychologie-Studium (Bachelor und Master) | Praktika (taz, F.A.S., sueddeutsche.de) | Volontariat (Süddeutsche Zeitung)

Auszeichnungen:
Shortlist: Georg von Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus 2018 (Kategorie Nachwuchs)
Nominiert: Deutscher Reporterpreis 2018, Kategorie Investigation

 

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