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Nerdpol

FOCUS: Gesunde Gefäße, gesundes Herz

1. November 2021

Ein Netz aus Arterien transportiert Blut bis in jede Körperzelle. Der erste Teil der Serie berichtet,
wie diese Lebensadern leistungsstark bleiben.

 

 

TEXT: KATHRIN SCHWARZE-REITER und HELMUT BROEG

MEDIUM: FOCUS

 

Dass Torsten Ketzel wieder auf dem Golfplatz stehen kann, grenzt an ein Wunder. Nur wenige Menschen überleben das, was dem 58-Jährigen passiert ist: ein Riss auf der Innenseite der Bauchaorta, eine sogenannte Dissektion. Die Hauptschlagader verteilt das vom Herzen gepumpte Blut im ganzen Körper. Setzt sich ein Riss im Gefäß bis in die Herzkammer fort, bedeutet das den sofortigen Tod. Ketzel arbeitete gerade im Garten seines Hauses in der Nähe von Hamburg, als er eine ungewohnte Müdigkeit verspürte. Plötzlich bekam er starke Zahnschmerzen, dann wanderten die Schmerzen schnell über die rechte Kieferseite und das Brustbein in den Bauch hinunter. Der
Apotheker wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Wie in Zeitlupe lief er zum Haus, schließlich kroch er auf allen Vieren. Aus seinem Mund kam nur noch „das Piepsen einer Maus“.

Seine Frau Marlies bemerkte den Notfall und alarmierte sofort den Rettungsdienst, der Torsten Ketzel ins nächstgelegene Krankenhaus brachte. Dort hatte er Glück im Unglück: Die anwesende Ärztin hatte erst eine Woche zuvor einen Mann mit ähnlichen Symptomen auf dem Behandlungstisch und wusste sie richtig zu deuten. Mit dem Helikopter wurde Ketzel ins Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf geflogen und notoperiert. Die Ärzte setzen ihm eine zehn Zentimeter lange Prothese aus Kunststoff direkt am Herzausgang ein, die das Pumporgan rettete.

Der vollständige Artikel als PDF 

 

Über unsere Autorin

 

KATHRIN SCHWARZE-REITER

Schwerpunkte:
Medizin, Wissen, Bildung, Geographie

Auszeichnungen:
Deutscher Reporterpreis: Nominierung Kategorie Wissenschaftsreportage
Medienpreis Weltbevölkerung
Masterclass Wissenschaftsjournalismus des Reporter-Forums
expopharm Medienpreis, Kategorie Apotheke und Verbraucher
ERM-Medienpreis für „Nachhaltige Entwicklung“
Hessischer Journalistenpreis und Hessischer Klimapreis

Tumor im Hormonzentrum: Emmas Tränen an der Treppe

30. Dezember 2020

Ein Tumor beschädigte das Hormonzentrum im Kopf der zehnjährigen Emma. Seither nimmt sie täglich Hormone, um zu überleben. Verändert sie das als Mensch?

 

AUTOR: BARBARA ESSER

MEDIUM: FOCUS GESUNDHEIT

Emma war vier, als ihre Eltern sich zu fragen begannen, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Dass es an den Hormonen liegen könnte – wer denkt an so was bei einer Vierjährigen? Auf einmal wollte Emma, die, ebenso wie ihre Eltern, in Wirklichkeit anders heißt, keine Treppen mehr steigen. Blöd, wenn man im vierten Stock Altbau ohne Lift wohnt. Heulend saß sie auf den Stufen. „Ich geh keinen Schritt mehr!“, verkündete sie. Vielleicht nur das Trotzalter? Aber dann diese Schlappheit. Ständig war Emma müde, lustlos. Auf der Wachstumstabelle an der Garderobentür klebten die von den Eltern alle paar Monate angebrachten Messstriche dicht aneinander. Emma wuchs kaum mehr.

In der Kita zog sie sich gerne in eine Ecke zurück und spielte mit kleinen Kieselsteinchen. Stundenlang konnte sie so sitzen, still und versunken in ihrer zusammen geschnurrten Welt. Toben, klettern, Fangen spielen – Emma mochte das nicht mehr.  Zuhause offenbarte sie eigentümliche Essensvorlieben. Am liebsten nur noch Nudeln mit Pesto, aber unbedingt unvermischt. Und Wasser, Wasser, Wasser. Emma entwickelte einen unbändigen Durst. Zwei bis drei Liter am Tag kippte das zierliche Mädchen in sich hinein, wurde panisch, wenn man unterwegs nichts zu trinken dabei hatte. Auch nachts musste jetzt immer eine Flasche Wasser neben ihrem Bett stehen. Jeden Morgen war sie leer. Keine Nacht ohne Toilettengänge mehr, irgendwo muss das Wasser ja hin.

Natürlich machten sich die Eltern Sorgen. „Ihre Haut veränderte sich“, erzählt die Mutter Bettina Ahrens. „Sie wurde plötzlich weiß und sehr weich. Man fragt sich: Stimmt da was nicht oder ist das alles nur Einbildung?“

Leider war es keine. Ein Jahr später, nach einigen diagnostischen Verfahren, die unter anderem Diabetes mellutis ausgeschlossen hatten, kam Emma in einem Münchner Krankenhaus in die Kernspin-Röhre. „Kein Wunder, dass es Ihrer Tochter nicht so gut geht“, teilte die Radiologin der Mutter im Beisein der Tochter mit. „Sehen Sie mal, sie hat ja einen Gehirntumor.“

Danach, sagt Bettina Ahrens, sei alles im Nebel gewesen. Die verstörte Tochter erst mal nur von dieser grobfühligen Ärztin wegbringen, den Partner anrufen und versuchen, das Unfassbare zu begreifen.

Emma hat ein sogenanntes Kraniopharyngeom, eine Fehlbildung im Kopf, die auf falsch entwickeltes Gewebe zurückgeht. Im Innersten ihres Gehirns war eine Geschwulst gewachsen. Kein bösartiger Tumor zwar, aber dennoch fatal, weil er auf das wichtigste Hormonzentrum drückt. In den benachbarten Hirnarealen Hypophyse und Hypothalamus werden Hormone gebildet und gesteuert, die für Wachstum, Gewichtsregulation, Pubertätsentwicklung und Flüssigkeitshaushalt verantwortlich sind (s.Kasten). Die Ausfallerscheinungen dieser Hormone hatten sich bei Emma schon bemerkbar gemacht. Auch der Sehnerv kann durch die Geschwulst so nachhaltig verletzt werden, dass die Betroffenen erblinden.

Von einer Million Kindern entwickeln statistisch gesehen etwa zwei ein Kraniopharyngeom, das immer an dieser zentralen Stelle auftritt und in der Regel unmittelbar nach Entdecken operativ entfernt werden muss. Manche Neurochirurgen öffnen dafür den Schädel und extrahieren mit dem Tumor zumeist auch Teile der Hypophyse. Bei Emma wurde die viereinhalb Zentimeter große  Geschwulst über einen Zugang durch Nase und Stirn in einer fünfstündigen Operation entfernt. Seither hat Emmas Hypophyse ihren Dienst beinahe ganz eingestellt, so richtig überprüfen kann man das nur mit sehr riskanten Tests. Zwar ist sie noch vorhanden, aber sie arbeitet derzeit kaum noch.

In einer Welt ohne künstliche Hormone, vor 100 Jahren, wäre Emma zwei Tage nach der Operation infolge des Hormonmangels gestorben. So aber lebt sie ein ziemlich normales Leben. Allerdings muss sie – just um diese Normalität zu wahren – tagtäglich künstliche Hormone schlucken und spritzen müssen. Morgens fünf 7 Milligramm Hydrocortison, 10 Milligramm des Antidiuretischen Hormons ADH, das den Wasserhaushalt und die Nierentätigkeit reguliert  und 75 Milligramm des Schilddrüsenhormons L-Tyroxin.

Abends noch mal ADH, damit sie die Nacht durchschlafen kann und nicht alle drei Stunden aufs Klo muss. Zusätzlich muss jeden Abend das Wachstumshormon Somatropin in den Oberschenkel gespritzt werden – aus einem Pen, der in der Kühlschranktür neben den Milchtetrapacks lagert.

Allein das Wachstumshormon kostet im Monat gut 2000 Euro. Emma muss oder darf es spritzen, bis sie die Grenze zur Kleinwüchsigkeit in Höhe von 156 Zentimetern hinter sich gelassen hat. Ob die Krankenkasse danach weiter bezahlt, ist noch nicht klar. „Wir wünschen uns das“, sagt der Vater Holger Ahrens. „Schließlich wäre Emmas familiäre Normgröße 174 Zentimeter. Außerdem ist das Wachstumshormon wichtig für die Entwicklung der Leber, des Gehirns und der Knochen.“

Die tagtäglichen Hormongaben gehören zum Alltag der Familie Ahrens. Emma verträgt sie gut, sie hat sich an die Tabletten gewöhnt und nimmt sogar die allabendliche Spritze tapfer hin. Mittlerweile setzt sie sich diese auch schon mal selbst. Und doch haben die künstlichen Hormone das Leben der Familie verändert. Haben sie auch Emma verändert?

Das verstaubte Glas mit den gesammelten Kieselsteinchen steht im Regal hinterm Esstisch, ein Relikt aus der Zeit, als Emma noch das Mädchen war, das zurückgezogen in der Ecke saß. Wie verwandelt sie heute, fünf Jahre später ist. Die Zehnjährige ist die vier Stockwerke bis zur Dachwohnung der Eltern mit ihrem Ranzen hoch gestürmt. Sie erzählt sprudelnd, gestikulierend, immer in Bewegung. Heute war ein doofer Tag in der Schule. In der Pause wollte niemand mit ihr spielen, das gibt’s schon mal. „Ich war traurig, musste weinen, eigentlich hätte ich da eine von den Stresskapseln nehmen sollen, aber da habe ich nicht dran gedacht“, plappert Emma. Es sei dann auch so gegangen.

Die „Stresskapsel“, das sind zwei Extra-Milligramm des Stresshormons Hydro-Cortison. Emma hat sie immer dabei, für besondere Situationen, in denen ihr Körper eine Extra-Dosis braucht, um damit klar zu kommen. Vor der Mathe-Probe nimmt sie schon mal die doppelte Morgendosis. Vor der Fahrradprüfung gibt es drei Milligramm extra. Auch wenn sie sich in den Finger schneidet und das Blut fließt, schluckt sie schnell eine Kapsel. Bei positivem Stress muss sie sich genauso wappnen. Kindergeburtstag, Klassenausflug, der Besuch der Oma, die Übernachtungsparty bei einer Freundin – mit etwas mehr Cortison im Körper lässt sich das besser bestehen. Es hört sich fast ein bisschen wie Doping an. Aber natürlich ist es das nicht.

„Wir ahmen damit nur nach, was die Natur machen würde“, sagt der Kinder-Endokrinologe Achim Wüsthof, der am Hamburger Endokrinologikum Kinder wie Emma betreut und hormonell einstellt. In Stresssituationen – positiven und negativen – schüttet der Körper Cortisol aus (bei körpereigenem Hormon spricht man von Cortisol, bei zugeführtem von Cortison). „Wenn jemand mit Cortisol-Mangel in eine Notsituation gerät und nicht seine Menge bekommt, kann das lebensbedrohlich sein“, erklärt Wüsthof. „Es kann es zu einem deutlichen Blutdruck- und Blutzuckerabfall führen, Fieber, Zittern und Schocksymptomen, die tödlich enden können.“ Für extreme Notfälle – einen Unfall etwa – führen Emma und ihre Eltern immer ein SOS-Zäpfchen mit 100 Milligramm Hydrocortison mit sich. Dazu einen Patientenausweis, der behandelnde Ärzte darauf hinweist, sofort  Cortison zu geben – nicht unbedingt das Erste, was ein Notfallmediziner bei einem Menschen in Schocksituation tun würde.

Dass Hormonsubstitution gerade bei Kindern immer noch so angst- und mythenbesetzt ist, verwundert Endokrinologe Wüsthof, selbst Vater von fünf Kindern. „Die Hormonbehandlung will nur wiederherstellen, was der liebe Gott ohnehin vorgesehen hatte. Man verändert nicht, sondern man normalisiert den Körper.“ Klar sei Emma heute anders. „Aber sie ist so, wie sie von der Genetik angelegt ist“, ist Wüsthof überzeugt.

In den vergangen anderthalb Jahren ist Emma Ahrens 16 Zentimeter gewachsen. Mit 1,40 Meter ist sie erstmals seit Jahren nicht mehr die Kleinste in ihrer Klasse. „Ich habe mehr Kraft und bin schneller geworden im Rennen“, sagt sie. Das käme von den Wachstumshormonen. Aber sie sagt auch: „Wenn ich zu viel Corti genommen habe, merke ich: ich werde hippel hippel.“

So einfach ist es eben doch nicht, die komplexen Nuancen eines gesunden Hormonhaushalts nachzuahmen. Bei der Dosierung müsse man sich, beschreibt es Wüsthof, „feinsinnig herantasten und auch auf das Naturell des Patienten abstimmen. Einen Leistungsportler wird man anders einstellen als einen Schachspieler.“ Natürlich gibt es Richtwerte. L-Tyroxin, Somatropin und ADH bemessen sich nach dem Körpergewicht. Cortison wird nach der Körperoberfläche bemessen. Man gibt 10 – 12 Milligramm pro Quadratmeter Körperoberfläche. Diese berechnet sich in Gewicht mal Größe in Zentimetern geteilt durch 3600 und davon die Wurzel. Emma hat danach 1,08 Quadratmeter Körperoberfläche, ihre Tagesdosis könnte danach bei 10-12 Milligramm liegen. Meist nimmt sie weniger.

Zu hoch dosiert, kann Cortison zu starkem Übergewicht, Muskelabbau und Knochenentkalkung führen. Viele der Kinder, die wegen Hypophysen-Insuffizient Cortison einnehmen müssen, sind stark übergewichtig. Emma ist nach wie vor sehr schlank.

Die Dosierung, sagen ihre Eltern, sei zuhause permanent ein Thema. Als überzeugte Anwenderin der Homöopathie habe sie erst einmal „den Schalter umlegen und verstehen müssen, dass Emmas Körper diese Hormone braucht“, räumt Bettina Ahrens ein. Anfangs habe sie instinktiv immer versucht, möglichst wenig Hormone zu geben. Heute sei sie da lockerer. „Wir dosieren oft intuitiv nach der jeweiligen Situation.“

Vielleicht noch eine „Mini“ nehmen, weil sie heute so viel Durst hat? Eine „Corti“, weil die Stirn so heiß ist oder eine Flugreise ansteht? Einmal hatte Emma auf Reisen eine wohl durch Hormonabfall bedingte Krise. Sie klagte erst über Kopfschmerzen, Übelkeit, dann sackten Kreislauf und Laune ab. Anzeichen eines akuten Cortisolmangels. Emma schrie, sie könne nicht mehr, wurde panisch, war kaum zu beruhigen. Die Cortisonkapsel half dann – vielleicht auch Bedrohliches zu vermeiden, wer weiß das schon. „Man will das nicht drauf ankommen lassen“, sagt Vater Holger. Trotzdem sei das nicht „wie ein Radio, wo man an den Knöpfen dreht, damit der Empfang wieder klar ist.“ Natürlich kann man nicht immer mit der Pille anrücken, manchmal muss es auch eine klare Ansage sein. Oft, wenn Emma aufbraust und ihren Vater anbrüllt, brülle der zurück, erzählt Emma. „Der Papa ist da streng.“

Emmas Geschwulst ist wieder nachgewachsen. Das passiert ab und an bei Kraniopharyngeom-Patienten. Anderthalb Jahre nach der ersten OP wurde sie erneut operiert, drei Monate später war der Tumor wieder da. Bei der dritten OP wurde ein Katheter gelegt, der die Flüssigkeit aus dem zystischen Tumor in das Hirnwasser ableitet. Seither hat sich die Geschwulst nicht mehr vergrößert. Verkleinert aber auch nicht. „Wir leben von MRT zu MRT“, sagt die Mutter. Alle drei bis vier Monate muss Emma in die Röhre, alle drei Monate geht sie zur Blutabnahme und Hormonkontrolle zum Endokrinologen.

Irgendwann in den nächsten zwei, drei Jahren wird wohl der Tag kommen, an dem Emmas Eltern und ihr Endokrinologe in Absprache mit ihr beschließen, dass es nun an der Zeit ist, in die Pubertät zu starten und die weiblichen Geschlechtshormone zuzuführen. „Uns ist wichtig, dass er Wunsch von den Jugendlichen ausgeht“, sagt Kinder-Endokrinologe Wüsthof. „Wir schauen, wann die Eltern und Geschwister in die Pubertät gekommen sind. Wichtig ist, dass man niemandem etwas überstülpt.“

Natürlich wird auch Emma sich dadurch verändern – wie alle Kinder in der Pubertät. Natürlich sind daran auch die Hormone beteiligt, wie bei jedem Pubertierenden. „Aber zu meinen, dass nur die Hormone den Menschen verändern, ist Quatsch“, beharrt Wüsthof und erzählt, dass er vor einigen Jahren als Gutachter in einem Mordprozess gegen einen jungen Mann auftreten musste, der wegen Kleinwüchsigkeit mit Wachstumshormonen behandelt worden war. Die Verteidigung plädierte, der Mann sei wegen der Hormongaben zum Mörder geworden. Sei praktisch nicht mehr er selbst gewesen. „Das ist schlichtweg Blödsinn“, sagt Wüsthof. Davon hat der Hormonexperte auch den Richter überzeugen können. Der Täter sitzt heute ein.

„Hormone müssen oft als Erklärungsmuster dafür herhalten, dass etwas nicht so läuft wie es laufen soll“, beklagt Wüsthof. Dabei sei just das Gegenteil der Fall: „Wenn jemand nicht die richtigen Hormone bekommt, dann kann er nicht so sein, wie er von Natur aus sein müsste.“

Emma sitzt vor dem Hamsterkäfig in ihrem Zimmer. Manchmal, wenn sie sich schlapp fühlt oder auch zu aufgedreht, schaut sie dem kleinen Zwerghamster zu, wie er in seinem Hamsterrad auf der Stelle rennt. Oder streichelt ihm über das angoraweiche Fell. Das hilft oft mehr als eine Kapsel Corti. Ob die Hormone sie wohl verändert haben? Emma blickt auf, denkt einen Moment nach und sagt dann bestimmt: „Ich glaube, ich bin jetzt so, wie ich eigentlich bin.“ Ein schöner Satz ist das.

 

 

Über unsere Autorin

 

BARBARA ESSER

Schwerpunkte:
Medizin, Wirtschaft, Psychologie, Nachhaltigkeit

Qualifikation:
Volontariat, Ressortleiterin, Textchefin, Redaktionsleitung
Studium der Politikwissenschaften u. Psychologie

 

 

Krautreporter: Das Upcoding-System

19. Juni 2019

Asthma statt Erkältung, Bluthochdruck statt Stress, Depression statt Stimmungstief: Ärzte tricksen gerne bei der Diagnose, auf Druck der Krankenkassen. Das beschert ihnen und den Kassen mehr Geld, aber den Betroffenen oft großen Ärger. Schuld ist ein System, das eigentlich für mehr Gerechtigkeit sorgen sollte.

 

AUTOREN: NINA HIMMER, DR. LISA AUFFENBERG & FRANZISKA DRAEGER

ZUM ORIGINAL

Stell dir vor, du gehst zum Arzt. Keine große Sache, bloß eine fiese Erkältung. Aber der Husten hält sich hartnäckig, und du fühlst dich abgeschlagen. Der Arzt überprüft die Lungengeräusche mit einem Stethoskop, verordnet Schleimlöser und schreibt ein Mittel zum Inhalieren auf. Wenn sich die Beschwerden nicht bessern, sollst du einen Allergietest machen. Doch bald sind die Symptome verschwunden und die Sache vergessen.

Vermutlich hättest du nie wieder daran gedacht, wärst du nicht beim Ausfüllen von Unterlagen für eine Versicherung über eine Zahlenfolge gestolpert, hinter der sich die Diagnose „Asthma bronchiale“ verbirgt. Eben noch warst du eine Person ohne nennenswerte Vorerkrankungen. Jetzt hast du auf dem Papier eine chronische Krankheit, die für den Abschluss der Versicherung zum Problem werden kann.

Diese Geschichte gibt es in vielen Varianten. Da ist die Mutter, deren Kind mit einer Salbe gegen einen Insektenstich behandelt wurde, bei dem aber auch die Behandlung einer Angststörung abgerechnet wurde. Da ist der Mann mit den Kopfschmerzen, der vor Gericht gegen eine Depressions-Diagnose vorgeht, weil er davon zum ersten Mal beim Abschluss einer Versicherung erfahren hat. Da ist die Frau mit der Verspannung im unteren Rücken, die zwar nach einigen Stunden Krankengymnastik verschwand, aber trotzdem als Verdacht auf Bandscheibenvorfall in ihrer Krankenakte landete.

Seit einiger Zeit häufen sich solche Fälle bei Beratungsstellen für Patienten, wo Betroffene in den meisten Fällen landen. Sie haben eine absurde Gemeinsamkeit: Alle sind zum Opfer einer eigentlich sehr guten Idee geworden.

Der Betrug der Krankenkassen beginnt in den Arztpraxen der Republik

Um den Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen fairer zu gestalten, wurde 2009 der sogenannte morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) eingeführt. Hinter diesem sperrigen Wortungetüm verbirgt sich ein Stück Gesundheitsreform, das auf die Entlastung der Krankenkassen abzielt. Denn: Bei manchen Kassen sind mehr alte und kranke Menschen versichert als bei anderen. Das kostet viel Geld, weil in dieser Gruppe höhere Arztrechnungen anfallen als bei einer jungen und gesunden Klientel. Auf ihren Kundenstamm haben die Krankenkassen dabei wenig Einfluss: Oft ist er historisch gewachsen, außerdem dürfen die meisten Deutschen frei wählen, wo sie sich versichern wollen. Die Kassen wiederum dürfen aus gutem Grund keinen Bürger ablehnen – schließlich soll am Ende niemand ohne Krankenversicherung dastehen.

Das Nachsehen haben in diesem System jene Krankenkassen, bei denen besonders viele alte Menschen oder solche mit schweren und chronischen Krankheiten versichert sind. Sie bleiben auf übermäßigen Kosten für Medikamente, Behandlungen, Operationen und Hilfsmittel sitzen. Um diesen Nachteil auszugleichen, wurden im Zuge der Reform zwei wichtige Änderungen beschlossen: Zum einen sollten künftig alle Kunden mit besonders teuren Krankheiten erfasst werden. Zum anderen sollten die Kassen für diese Kunden Finanzhilfen aus einem Gesundheitsfonds bekommen. Dieser Fonds wurde eigens eingerichtet und finanziert sich aus den Beiträgen der Versicherten und Steuergeldern. Zuletzt betrug er rund 200 Milliarden Euro, die zwischen den 113 gesetzlichen Krankenkassen verteilt wurden.

Aus diesem großen Topf finanzieren sich alle gesetzlichen Kassen. Sie erhalten für jeden Versicherten eine Grundpauschale, die je nach Krankheitsrisiko nach oben oder unten angepasst wird. Dabei gilt: Je älter und kränker die Versicherten einer Kasse sind, desto größer ihr Stück vom Kuchen. Das macht den Gesundheitsfonds zu einer gigantischen Umverteilungsmaschinerie, von der manche Kassen mehr und andere weniger profitieren. Im Jahr 2016 etwa hat die Debeka BKK mit 1.581,42 Euro je Versichertem am wenigsten erhalten, die AOK Sachsen-Anhalt mit 4.080,94 Euro dagegen am meisten. Die Debeka hatte also unter dem Strich die gesündesten Versicherten, die AOK die kränksten – was ihr große Summen aus dem Fonds beschert hat.

Tricksen bei den Diagnosen

Leider führen selbst gute Ideen manchmal zu schlechten Ergebnissen. Der Morbi-RSA stößt in der Praxis an seine Grenzen, weil er viel Spielraum für Missbrauch bietet. Dieses Problem prangerte der Chef der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas, in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung an. Darin bekannte er überraschend freimütig: „Wir Krankenkassen schummeln ständig“ – und belastete damit auch sein eigenes Unternehmen. Jedes Jahr, so Baas, würden Milliarden aus dem Gesundheitsfonds verloren gehen, weil zwischen den Kassen ein Wettbewerb darüber entstanden sei, wer das System am besten manipulieren könne.

Manipulieren heißt in diesem Fall: tricksen bei den Diagnosen. Weil die Kassen mehr Geld aus dem Fonds abschöpfen wollen, als sie tatsächlich für ihre Versicherten brauchen, buhlen sie auf einmal um kranke Patienten – zumindest auf dem Papier. Mit Blick auf die eigene Bilanz sind sie schlicht mehr wert als Gesunde. Der Betrug der Krankenkassen beginnt in den Arztpraxen der Republik. Hier diagnostizieren Ärzte ihre Patienten kränker, als sie sind.

Da wird aus einem leichten Bluthochdruck auf einmal ein schwerer, aus einer Erkältung Asthma, aus einem Stimmungstief eine Depression oder aus einem Hexenschuss „chronischer Schmerz“. Die Statistik zeigt, dass Diagnosen wie diese seit der Einführung des Morbi-RSA stark angestiegen sind. „Chronische Schmerzen“ etwa wurden in den vergangenen vier Jahren doppelt so oft festgestellt, Patienten mit schweren Depressionen sind im gleichen Zeitraum um 60 Prozent gestiegen. Auch Adipositas wird deutlich häufiger diagnostiziert, seit die Krankheit als Kriterium für den Finanzausgleich eingeführt wurde. Experten sprechen von Upcoding, wenn Krankheiten in der Patientenakte verschlimmert werden.

Dazu muss man wissen: Es gibt eine Liste mit 80 Krankheitsgruppen, deren Behandlung als besonders teuer gilt. Sie ist die Grundlage für Extra-Gelder aus dem Fonds. Die Schummeleien zielen deshalb meist darauf ab, eine oder mehrere Diagnosen aus der Liste unterzubringen. In manchen Fällen ist das unproblematisch, etwa bei Krebs, Multipler Sklerose, Schlaganfällen, HIV, Parkinson oder einem Schädel-Hirn-Trauma. Diese Krankheiten lassen nicht viel Interpretationsspielraum zu, man hat sie oder eben nicht. Upcoding ist deshalb unwahrscheinlich.

Anders sieht es mit den großen Volkskrankheiten aus, bei denen die Grenzen zwischen schweren und leichten Fällen fließend sind: Bluthochdruck, Diabetes, Asthma, Osteoporose, Arthrose, Adipositas und Depressionen zum Beispiel. Für diese Krankheiten – die extrem viele Menschen betreffen – existiert eine Grauzone, in der Ärzte ihre Diagnosen unterschiedlich kodieren können. Genau an diesem Punkt besteht die Gefahr eines Missbrauchs. Bei den oben genannten Krankheiten machen kleine Unterschiede bei der Diagnose nämlich schnell 1.000 Euro mehr oder weniger pro Versichertem und Jahr aus. Sprich: Für die Kassen ist es lukrativ, wenn jemand auf dem Papier unter chronischem Asthma oder hohem Blutdruck leidet, in Wahrheit aber keine teuren Medikamente oder Therapien benötigt.

Laut TK-Chef Baas geht es genau um diese Grauzone: „Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten und psychische Krankheiten“, antwortet er im Interview auf die Frage, bei welchen Krankheiten die fehlerhaften Kodierungen am häufigsten vorkommen. Alleine bei der TK habe sich die Zahl der Depressionen in den letzten vier Jahren vervierfacht. „Und das sicher nicht nur, weil Leute kränker werden und das Problem weniger stigmatisiert wird“, so Baas.

Die Krankenkassen zahlen Ärzten Prämien für bestimmte Diagnosen

Warum spielen Ärzte da mit? Vorneweg: Alle tun das sicher nicht. Aber dass Upcoding durchaus gängig ist, haben mittlerweile mehrere Gutachten, Studien, Patientenverbände und Ärzte bestätigt. Darunter auch der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery. Direkt nach dem Baas-Interview sagt er dem Donaukurier: „Es ist gang und gäbe, dass die Kassen anrufen und versuchen, Ärzte dazu zu bringen, Diagnosen nachträglich zu beeinflussen.“ Ähnlich kritisch äußerte sich der Deutsche Hausärzteverband.

Da stellt sich die Frage: Wie genau bringen Kassen die Ärzte dazu, ihnen übertriebene Diagnosen zu liefern? Offenbar nutzen sie dafür unterschiedliche Strategien. Eine davon ist, Ärzten finanzielle Anreize zu bieten. Zum Beispiel über Bonuszahlungen oder pauschale Prämien für bestimmte Diagnosen, die drei bis zehn Euro mehr pro Patient bringen. Das klingt wenig, läppert sich mit der Zeit aber.

Ein anderes Mittel sind sogenannte Betreuungsstrukturverträge. Diese Verträge sehen für teilnehmende Ärzte zusätzliche Vergütungen vor, ohne dass sie dafür eine konkrete Leistung erbringen müssen. Offiziell ist darin schwammig von einer „erhöhten Betreuungsintensität“ oder „zusätzlichem Betreuungsaufwand“ die Rede. Doch letztlich geht es schlicht um lukrative Diagnosen. Dafür spricht, dass in den Verträgen oft ausschließlich die 80 Krankheiten aus der Liste aufgeführt sind, wie eine Studie des unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstituts für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen (IGES) belegt. Die Forscher haben ausgerechnet, dass die Kassen jährlich wohl rund 291 Millionen Euro nur für solche Strukturverträge ausgeben. Geld, das in die Taschen der Ärzte fließt, obwohl es zur Patientenversorgung gedacht ist. Mittlerweile wurden solche Verträge als rechtswidrig eingestuft, sie existieren allerdings – mit leichten Anpassungen – weiterhin.

Abseits dieser zusätzlichen Vergütung forcieren die Kassen die gewünschten Diagnosen, indem sie die Ärzte anrufen oder besuchen, um über Patientenakten zu sprechen und Kodierungen „anzupassen“ und „zu optimieren“. Offenbar haben manche Kassen ganze Abteilungen, die auf das Thema spezialisiert sind, und beauftragen externe Dienstleister, die zu den Ärzten geschickt werden. Dort bieten sie „Kodierberatungen“ oder spezielle Praxis-Software an, um das „korrekte“ Kodieren zu erleichtern.

„Wir haben regelmäßig Leute von den Kassen in der Praxis, die über Fälle sprechen wollen“, bestätigt Maximilian Micka aus dem bayerischen Pfakofen. Der Hausarzt ist überzeugt, dass viele Ärzte der Aufforderung der Kassen nachkommen. Sei es, um den zeitraubenden Besuchen und Anrufen der Kassen zu entgehen, mehr Geld zu kassieren oder schlicht, weil sie auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen sind. „Niemand will es sich mit den Kassen verscherzen, weil es in vielen Fällen um den guten Willen geht“, sagt Micka.

Dazu muss man wissen: Die Kassen können von den Ärzten Regress fordern, wenn eine Behandlung nicht zur Diagnose passt. In diesem Fall müssen sie selbst für die Behandlungen aufkommen – was sehr teuer werden oder sogar zur Insolvenz der Praxis führen kann. „Das ist ein ebenso gutes wie dezentes Druckmittel, das die Kassen da in der Hinterhand haben“, sagt Micka. Explizite Drohungen oder Aufforderungen brauche es da nicht, alle sprächen hübsch und freundlich von einer „Optimierung der Kodierung“.

Vier von fünf Ärzten seien schon von den Kassen „kontaktiert“ worden

Zunächst wenig. Mehrfach haben wir die Kassenärztliche Bundesvereinigung für eine Stellungnahme kontaktiert – inklusive aller Landesverbände. Von manchen ist bekannt, dass sie heikle Betreuungsstrukturverträge mit den Kassen abgeschlossen haben. Wir wollten wissen, wie der Verband dazu steht und welche Erfahrungen seine Mitglieder mit den Krankenkassen gemacht haben. Statt Antworten bekamen wir abwiegelnde E-Mails. Darin heißt es pauschal: „Der Wettbewerb der Krankenkassen darf sich nicht in den Arztpraxen niederschlagen, weil bestimmte Kassenarten ein Interesse an bestimmten Diagnosegruppen haben. Mehr werden wir als Kassenärztliche Bundesvereinigung zu diesem Thema nicht beisteuern können.“

Also haben wir direkt in Praxen nachgefragt und doch einige Ärzte gefunden, die etwas beisteuern wollten. Die deutlichsten Worte findet auch hier Allgemeinmediziner Micka: „Die Damen und Herren der Kassen schicken uns regelmäßig ihre Angestellten ins Haus, um unser Kodierungsverhalten zu beeinflussen.“ Einmal pro Quartal stehe zum Beispiel der AOK-Vertreter auf der Matte. „Als er das erste Mal aufkreuzte, hatte er eine Liste mit etwa 200 Patienten dabei, über deren Diagnose er nochmal sprechen wollte.“ Anfangs sei seine Wut darüber groß gewesen – auch, weil ihm medizinische Laien in seine Arbeit hineinreden wollten. Mittlerweile nutze er aber die Vorteile des Kodierens aus, um sauber zu dokumentieren und seinen Patienten die beste Behandlung nach den Spielregeln der Kassen zu ermöglichen. Den Fehler sieht er nicht bei den Ärzten, sondern im System: „Wenn Kopfgelder für Kobras gezahlt werden, um einer Plage Herr zu werden, muss man sich nicht über Kobrazuchtfarmen wundern.“

Auch der in Heidelberg niedergelassene Arzt Gunter Frank hat Erfahrungen mit Upcoding gemacht. Ihm sei aufgefallen, dass immer mehr Patienten mit fragwürdigen Diagnosen und Verschreibungen in seinem Wartezimmer sitzen. „Wenn ich dann ihre Blutwerte und die Wechselwirkungen zwischen den Mitteln prüfte, stellte sich oft heraus, dass der Patient gar nicht alle Medikamente benötigt“, sagt er. Früher wären die Kassen daran interessiert gewesen, drastische Diagnosen anzuzweifeln, um unnötige und teure Therapien zu begrenzen. „Jetzt aber sind die ökonomischen Kräfte des Gesundheitsmarkts entfesselt“, erklärt Frank.

Einzelfälle sind das nicht. Einer von der TK beauftragten Studie zufolge gaben 82 Prozent der anonym befragten Ärzte an, schon mindestens einmal von der Kasse zur Beeinflussung einer Diagnose kontaktiert worden zu sein. Seit der Betrugsvorwurf öffentlich im Raum steht, melden sich immer mehr Mediziner kritisch zu Wort. Viele scheinen durchaus erleichtert, dass Upcoding in der öffentlichen Diskussion angekommen ist. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich nach dem Baas-Interview viele Ärzte bei der Staatsanwaltshaft meldeten, die mittlerweile wegen Betrugs gegen einige Kassen ermittelt.

Die Krankenkassen teilen sich in zwei Lager

Mit seinen Anschuldigungen hat TK-Chef Jens Baas eine große Diskussion angestoßen – und sich damit nicht nur Freunde gemacht. Vielen in der Branche gilt er als Nestbeschmutzer. Vor allem aus den Reihen der „großen regionalen Kassen“, die Baas explizit kritisiert hatte, hagelte es Kritik: „Dieser Rundumschlag gegen Ärzte, Aufsichten und Krankenkassen vom Chef der größten gesetzlichen Krankenkasse erstaunt alle“, sagte etwa Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Und fügt hinzu: „Wir fordern schon seit Langem, den Risikostrukturausgleich manipulationsresistenter zu machen.“ Ein verräterischer Satz, mit dem er die Vorwürfe indirekt bestätigt.

AOK-Mann Litsch unterstellt TK-Mann Baas blankes Kalkül: Jahrelang habe die Techniker Krankenkasse um junge und gesunde Menschen geworben – und sorge sich nun schlicht um ihre Finanzen. „Offenbar passt es ihm nicht, dass sich für seine Krankenkasse die Risikoselektion zulasten von chronisch Kranken nicht mehr lohnt. Aber anstelle das einzugestehen, stellt er lieber die Datengrundlage des RSA als hochgradig manipulationsanfällig dar“, meint Litsch. Gut möglich, dass Baas tatsächlich das Wohl der eigenen Kasse im Blick hatte, als er im Interview auspackte. Trotzdem ist ihm anzurechnen, dass er eine Debatte über eine Praxis entfacht hat, die letztlich vor allem den Patienten schadet.

Und: Während die AOK gegen Baas austeilte, sprangen ihm andere Kassen bei. Der Dachverband der Betriebskrankenkassen etwa kommt in einer Stellungnahme zu dem Schluss: „Die finanzielle Schieflage zwischen den Krankenkassen verschärft sich aufgrund massiver Fehlsteuerungen im GKV-Finanzierungsausgleich.“ Der Verband rechnet vor, dass 2016 mit rund 1,5 Milliarden Euro übermäßig viel Geld an die AOK-Kassen geflossen sei, wohingegen andere Kassen eine Unterdeckelung haben hinnehmen müssen. Sie müssen die fehlenden Gelder durch höhere Zusatzbeiträge wieder eintreiben. „Diese Fakten können nicht einfach wegdiskutiert werden“, heißt es in dem Papier, „es bestehe erheblicher Reformbedarf.“

Am Ende die Leidtragenden: die Patienten

Die Kassen teilen sich also in zwei Lager. Die einen bauschen das Problem möglicherweise auf, die anderen streiten es ab. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Dass die Manipulationen stattfinden, steht jedenfalls fest: Die Diagnosen bestimmter Krankheiten sind durch den Morbi-RSA sprunghaft angestiegen, die Betreuungsstrukturverträge zielen nachweislich auf Upcoding ab, Ärzte bestätigen das Vorgehen der Kassen auf breiter Front, und bei den Patientenverbänden suchen immer mehr Betroffene Hilfe.

Der Betrug geschieht auf Kosten der Patienten. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Es sind schließlich ihre Beiträge, die jedes Jahr für üppige Summen im Gesundheitsfonds sorgen. Da mehr Geld abgeschöpft wird als nötig und die Kassen, die bei der Verteilung zu kurz kommen das Geld auf andere Weise eintreiben müssen, steigen die Beiträge. Der Betrug macht die Versicherung also für jeden von uns teurer. Laut TK-Chef Baas geht es bei seiner Kasse dabei aktuell um bis zu 0,3 Prozentpunkte.

Noch härter trifft die Praxis Menschen, die beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung oder bei der Verbeamtung eine böse Überraschung erleben. Oft fliegen falsche Diagnosen dabei auf, weil Behörden und Versicherungsunternehmen den Gesundheitsstatus prüfen. Viele trifft die Ablehnung dann aus heiterem Himmel, weil sie nichts von den Diagnosen in ihren Akten wissen.

Heike Morris von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland kennt das gut: „Wir hatten in letzter Zeit erstmals Anfragen von Patienten, in denen es darum ging, eine Diagnose wieder loszuwerden“, sagt sie und schildert den Fall eines Patienten, der wegen starker Kopfschmerzen beim Arzt gewesen sei. Erst viel später kam bei der Beantragung einer Berufsunfähigkeitsversicherung heraus, dass bei ihm eine Depression diagnostiziert worden war.

„Er versucht nun, vor Gericht dagegen vorzugehen. Das ist aber extrem schwer, weil man seinen damaligen Zustand rückwirkend ja nicht mehr nachprüfen kann“, erklärt Morris. Noch hässlicher wird es, wenn ein bestehender Versicherungsschutz im Fall der Fälle nicht greift, weil die Versicherung Jahre später aufgrund einer fälschlich gestellten Diagnose davon ausgeht, dass der Patient diese wissentlich verschwiegen habe. In solchen Fällen die eigene Unschuld zu belegen, ist fast unmöglich.

Im Zweifel: absichern

Schwerwiegender als der volkswirtschaftliche Schaden ist aber das Spiel mit der Gesundheit der Patienten. Schließlich folgen aus Überdiagnosen möglicherweise unnötige Behandlungen oder Medikamente. Manchmal kommt das bei einem Arztwechsel raus: „Ich habe jahrelang zweimal täglich ein Asthmaspray genommen“, erzählt uns ein junger Patient aus Heidelberg, „und nachdem ich einen anderen Arzt aufgesucht habe, konnte ich es einfach absetzen. Er hat mir versichert, dass ich das Spray nicht brauche. Da fragt man sich schon, wie das sein kann.“

Manchmal nutzen die Überdiagnosen den Patienten allerdings auch. Gerade bei psychischen Krankheiten kann eine übertriebene Diagnose dafür sorgen, dass die Kosten für eine Therapie übernommen werden und der Betroffene schneller einen Therapieplatz bekommt. Manche Ärzte nutzen das gezielt, um ihren Patienten die bestmögliche Behandlung zu verschaffen und nicht erst abzuwarten, bis sich etwa eine Depression verschlimmert.

Eine andere Möglichkeit ist die Zweitmeinung. Wer berechtigte Zweifel an einer Diagnose hat, sollte sich absichern, indem er einen anderen Arzt aufsucht und die Diagnosen vergleicht. Denn was einmal in den Akten steht, ist nur schwer wieder loszuwerden, wie auch Patientenberaterin Edeltraud Paul-Bauer vom Gesundheitsladen Bremen bestätigt.

Nach Bekanntwerden der Vorwürfe gab das Bundesgesundheitsministerium Ende 2016 ein Sondergutachten in Auftrag. Ein Wissenschaftlicher Beirat analysierte dafür die Kodierpraxis und legte im September 2017 erste Ergebnisse vor. Darin heißt es: „Auch wenn die empirischen Ergebnisse dieses Gutachtens keine eindeutigen Beweise liefern können, gibt es Belege für manipulative Aktivitäten der Krankenkassen zur Beeinflussung der Höhe der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds im Rahmen des Morbi-RSA.“ Der Beirat empfiehlt deshalb eine Stärkung der Manipulationsresistenz des Modells, beispielsweise durch die striktere Kopplung von Diagnosen und Therapien.

Noch während der Beirat an dem Gutachten arbeitete, stellte die Deutsche Stiftung Patientenschutz Strafanzeige gegen die Krankenkassen, Transparency International forderte Justiz und Politik auf, den Missbrauch öffentlicher Ressourcen zu unterbinden, und der Interessenverband kommunaler Krankenhäuser warf den Kassen „systematischen Abrechnungsbetrug vor. Vor diesem Hintergrund hat der Bundestag im April 2017 eine erste Gesetzesverschärfung beschlossen. „Krankenkassen oder Ärzte dürfen sich nicht durch unzulässige Beeinflussung von Diagnosen finanzielle Vorteile verschaffen“, heißt es in dem Beschluss. Das kommt einem Verbot von Upcoding gleich. Im Zuge dessen wurden außerdem die gezielte Vergütung von Diagnosen durch Betreuungsstrukturverträge sowie die Diagnosebeeinflussung durch Kodierberatung oder mit Hilfe bereitgestellter Praxissoftware verboten.

Geld gegen Diagnose

Das klingt gut, doch es bleibt ein großes „Aber“: Das schärfste Verbot greift nicht, wenn es nicht gut kontrolliert wird. Und aktuell fehlen die Ressourcen für eine grundlegende Überprüfung des Systems. Viele Experten kritisieren außerdem, dass die Verschärfung zu milde ausgefallen sei – wohl auch auf Druck der Kassen-Lobbyisten, die sich zahlreich in Berlin tummeln. Sie schlagen deshalb härtere Maßnahmen vor, um das Problem in den Griff zu bekommen: Volkskrankheiten ganz von der Liste streichen, jegliche Form von Ersatzverträgen zwischen Ärzten und Kassen verbieten, die Nutzung von Praxis-Software vor Ort überprüfen und bessere Kontrollen durchsetzen.

Dass ihre Sorge begründet ist, unterstreicht eine Studie des unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstituts für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen. Die IGES-Experten kommen darin zu dem Schluss, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend sind. So führe etwa das Verbot von Betreuungsstrukturverträgen schlicht dazu, dass die Kassen auf andere Vertragsarten ausweichen, etwa solche zur „Hausarztzentrierten Versorgung“.

Diese Verträge heißen etwas anders, funktionieren etwas anders – aber am Ende fließt immer noch Geld für bestimmte Diagnosen. Sie zweifeln außerdem an, dass der Fehlgebrauch von Praxissoftware ausreichend kontrollierbar ist, und fordern, dass es Aufsichtsbehörden leichter gemacht werden sollte, Gesetzesverstöße schneller zu finden und zu sanktionieren. Dass das eine gute Idee wäre, zeigt eine andere Untersuchung: Bei einer anonymen Umfrage unter Ärzten, die nach der Gesetzesverschärfung durchgeführt wurde, kam heraus, dass noch immer jeder Fünfte in Sachen Diagnosen von den Kassen kontaktiert wird.

Das Problem ist also noch lange nicht vom Tisch. Wohl auch deshalb hat es Einzug in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung gefunden. Dort heißt es: „Unter Berücksichtigung der Gutachten des Expertenbeirats des Bundesversicherungsamtes werden wir den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich mit dem Ziel eines fairen Wettbewerbs weiterentwickeln und ihn vor Manipulation schützen. Es wird eine regelmäßige gutachterliche Überprüfung gesetzlich festgelegt.“

Noch ist aber nichts Konkretes passiert. Möglicherweise wird die Justiz schneller sein als die Politik: Im September 2017 fanden Razzien bei der AOK Rheinland in Düsseldorf und bei der AOK Hamburg statt, auch gegen Jens Baas, der die Schummelei öffentlich eingestand, ermittelt die Staatsanwaltschaft. „Wir gehen davon aus, dass die Kassen in Höhe von mehreren Millionen Euro von den verfahrensgegenständlichen Abrechnungen profitiert haben“, kommentiert Oberstaatsanwältin Nana Frombach die Beschlagnahmung von unzähligen Morbi-RSA-Unterlagen. Die Ermittler wollen herausfinden, ob die Kassen das Sozialsystem tatsächlich betrogen haben – und in welchem Umfang. Bis sie Ergebnisse liefern, wird der Morbi-RSA wohl weiterhin einer der größten Streitpunkte deutscher Gesundheitspolitik bleiben.

 

Dieser Artikel entstand mit Unterstützung des Wissenswerte-Recherchestipendiums, das jährlich von der Technischen Universität Dortmund gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung vergeben wird.

 

Über unsere Autorinnen

 

NINA HIMMER

Inhaltliche Schwerpunkte:
Medizin & Tiermedizin, Gesundheit, Psychologie, Outdoor- und Klettersport.

Konzeptuelle Schwerpunkte:
Konzeption Printmagazine im Bereich Medizin und Gesundheit, Verknüpfung von Online- und Printformaten, Jugend- und Kinderjournalismus.

Auszeichnungen:
Wissenswerte-Recherchestipendium 2016 | Journalists Network Recherchereise Israel und Palästina 2017 | Lokalsportpreis 2013 | Textbeispiel Storytelling (Buch und Online)

 

 

 

DR. LISA AUFFENBERG

Schwerpunkte:
Medizin, Gesundheit, Psychologie, (Berg-)Sport

Auszeichnungen:
WISSENSWERTE-Recherchestipendium für Medizinjournalisten
Wegweiserpreis für Nachwuchsjournalisten
Stipendiatin im Nachwuchsförderprogramm der Journalisten-Akademie (KAS)
Stipendien der FAZIT Stiftung und der Studienstiftung des deutschen Volkes

1890 Magazin: Schweres Erbe

18. Juni 2019

Rainer und René steckt die Krankheit ihrer Mütter in den Genen. „Chorea Huntington“ wird sie erst um den Verstand und dann umbringen. Wie fühlt es sich an, sein Ende zu kennen?

 

TEXT: NINA HIMMER

MEDIUM: 1890 MAGAZIN

René wartet. Wenn er sich die Zähne putzt. Wenn er den Tisch deckt. Wenn er spazieren geht, mit Freunden unterwegs ist oder ein Computerspiel zockt. Er wartet darauf, dass ihm ein Glas durch die Finger rutscht, das Handy aus der Hand fällt, er stolpert oder schwankt. Darauf, dass ihn jemand komisch ansieht oder fragt, ob er betrunken sei. René, 31 Jahre alt, wartet auf die ersten Anzeichen.

Das Unvermeidliche sitzt auf Chromosom vier. Es ist ein Gen, das alle Menschen in sich tragen und das bei einigen zu lang geraten ist. Eine Art Schreibfehler im Erbgut sorgt dafür, dass sich die Basenpaare auf einem bestimmten Abschnitt zu oft wiederholen. Diese Mutation löst Chorea Huntington aus, eine Nervenkrankheit, die Gehirnzellen zerstört. Wer sie hat, verliert nach und nach die Kontrolle über seine Bewegungen, Sprache und sein Verhalten. Meist treten erste Symptome zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr auf, durchschnittlich 15 Jahre später sterben die Erkrankten. Heilung gibt es bis heute keine.

„Bei meiner Mutter ging es schneller“, sagt René und versinkt in den braunen Lederpolstern seiner Couch. Er redet ungern über Vergangenes. Vielleicht, weil für ihn die Zukunft darin steckt. Das Schicksal seiner Mutter wird auch ihn ereilen – er hat ihre Krankheit geerbt.

Erinnerungen an sie als gesunde Frau hat er kaum. Stattdessen denkt er an das Gerede der Leute im Dorf, das Verschwinden des Vaters, die Verzweiflung seiner Tante und den körperlichen Verfall seiner Mutter. Auch den Tag kurz vor seinem elften Geburtstag wird er nicht vergessen: Seine Mutter kam in ein Heim und er in eine Pflegefamilie, „weil es einfach nicht mehr ging“.

Noch hat René den schlanken, muskulösen Körper eines Mannes, der stets mit den Händen gearbeitet hat. Dass sie ihm eines Tages nicht mehr gehorchen werden, ist kaum vorstellbar. Er redet leise und gestikuliert sparsam. Kein Zittern, keine Unsicherheit hat sich bisher in sein Auftreten geschlichen. Eine Ahnung von Resignation, das schon. Er weiß, dass die Krankheit ihrem Namen irgendwann gerecht wird. „Chorea“ ist griechisch für „Tanz“ – eine Anspielung auf die unwillkürlichen Bewegungen der Erkrankten.

Rainer Wegener „tanzt“ schon seit einer Weile. Auch er erbte Huntington von seiner Mutter. Wegener ist gerade 50 geworden: Ungeplant standen seine Wanderkumpels vor der Tür, um bis in die Nacht mit ihm zu feiern. „Ganz spontan“, sagt er. Cappuccino tropft auf seinen Küchenboden. Er schaut auf seine Hände, die den Löffel nicht ruhig halten können. „Eigentlich wollte ich keine Party. Ich dachte, es geht nicht mehr.“

Wegener klingt, als habe er sich mit seinem Schicksal arrangiert. Seit seinem 31. Lebensjahr kennt er es. Er weiß, dass die Krankheit sein Hirngewebe angreifen, ihm seine Bewegungsfähigkeit und Persönlichkeit rauben wird. Am 27. November 1995 machte er als einer der ersten in Deutschland einen Huntington-Gentest. Es braucht nur ein paar Tropfen Blut, um zu erfahren, ob und wie schwer einen die Krankheit treffen wird. Rainer Wegener wollte Gewissheit. „Als junger Mann war ich überzeugt davon, gesund zu sein.“ Das Risiko, die Krankheit zu erben, liegt bei 50 Prozent. Als er den Befund drei Monate nach dem Test von einer Ärztin erfährt, bricht eine Welt zusammen: „In dem Moment war ich tot. Meine Zukunft fühlte sich auf einmal bleischwer an.“

Mit einem Freund fährt Wegener nach dem Kliniktermin in eine Kirche. Stundenlang sitzt er in dem stillen Gotteshaus und horcht in sich hinein. „Ich hatte Bilder vor meinem inneren Auge, herrliche Landschaften, pure Natur – ich wusste, ich will verreisen.“ Als er die Kirche verlässt, treibt ihn ein Gedanke: „Gott ist tot, es lebe Rainer.“ Er will sein Leben selbst gestalten. Die Zeit nutzen, die bleibt. Wenige Wochen nach der Diagnose kündigt er seinen Job als Sozialarbeiter, vermietet seine Wohnung und fliegt nach Alaska. Wenn er heute davon erzählt, kommen die Worte atemlos und abgehackt aus seinem Mund. Manchmal bleiben sie darin stecken. Dann legt er die Hände an die Schläfen und denkt nach: über einen fehlenden Begriff, einen plötzlich verflogenen Gedanken, eine Erinnerung.

Auch für René war der Test reine Formsache. Kurz nach seinem 18. Geburtstag fährt ihn sein Pflegevater in die Klinik. René macht zu dieser Zeit eine Ausbildung zum Maschinenbaumechaniker, geht viel feiern und mit Mädchen aus. „Ich wollte einfach nur die Bestätigung, gesund zu sein.“ In den Wochen nach der Blutabnahme denkt er kaum an den Test. Dafür hat sich das Gesicht der Ärztin in sein Hirn gebrannt, als sie ihm mitteilt, wie viele Wiederholungen er auf dem betroffenen Genabschnitt hat. 20 bis 30 sind normal, 35 kritisch, ab 40 wird man an der Krankheit sterben. René hat über 50. Nur rund 8000 Menschen in Deutschland haben mehr als 40. René faltet das Papier mit dem Ergebnis zusammen und steckt es in seine Hosen­tasche. Er weint nicht. Er schreit nicht. Er tut nichts. Aber als er die Klinik verlässt, ist er ein anderer Mensch.

Diese Erfahrung teilen beide Männer. Der Glaube, gesund zu sein. Der Schock, das Gegenteil zu erfahren. Und das Wissen, am Krankenbett der Mutter einen Blick in die eigene Zukunft geworfen zu haben. Hier enden die Gemeinsamkeiten. Für den einen beginnt nach dem Test das Leben. Für den anderen die Leere.

Anfangs versucht René, sie zu ignorieren. Dann tut er alles, um sie auszufüllen. „Ich war nächtelang unterwegs, habe Drogen genommen, drei Kinder gezeugt und eine desaströse Beziehung geführt.“ Doch irgendwann ist die Party vorbei, das Bett leer und die Wirkung der Pillen verflogen. Nur das Testergebnis bleibt. Mit 27 Jahren versucht René, aus seinem Schicksal zu springen. 30 Meter tief, einen Steinbruch hinab. Sein letzter Gedanke: „Jetzt oder später, ist doch egal.“ Er ist ihm seitdem oft gekommen, aber einen Selbstmordversuch unternahm er nicht mehr. René überlebt den Sturz, weil ihn Felsvorsprünge bremsen. Als er auf dem Boden aufschlägt, sind unzählige Knochen hin, doch sein Handy hat keinen Kratzer. „Ich habe an meine Kinder gedacht und Hilfe gerufen.“ Er verbringt Monate im Krankenhaus, allein sein Rücken ist an drei Stellen gebrochen. „Papa ist krank“, erklärt seine Exfreundin den Kindern, die Wahrheit sollen sie nicht erfahren. René erholt sich wieder, heute erinnern ihn nur noch einige Schrauben im Rücken an den Sprung. Er muss auf dem Bauch schlafen, dann hat er keine Beschwerden. „So viel Glück“, sagt er, „ist doch irgendwie ironisch.“

Jetzt, mit 31, lebt René das Leben eines alten Mannes. Im Herbst 2013 ist er in ein Wohnheim für Huntington-Kranke in der Nähe von Hamburg gezogen. Die Menschen um ihn herum sind älter und haben die Krankheit in einem fortgeschrittenen Stadium. Seine Tage bestehen aus Logopädie, Ergotherapie, Küchendienst und Langeweile. Er müsste nicht hier sein. „Aber es gibt mir die Sicherheit, mich um nichts kümmern zu müssen, wenn es so weit ist.“

Der verdammte Test. Wäre er ein glücklicherer Mensch, wenn er ihn nicht gemacht hätte? „Ich weiß es nicht.“ Wenn das Grübeln losgeht, setzt er seine Kopfhörer auf und geht spazieren. Max Herre, Gentleman, AC/DC. Aber wirklich vergessen kann er sein Schicksal nur, wenn er bei seinen Kindern ist. Doch Mia, Paul und Julius, zwischen sieben und elf Jahre alt, leben in Pflegefamilien, die Zeit mit ihnen ist knapp. Und wenn er nach Hause kommt, plagt ihn die Frage, ob es richtig war, sie in die Welt zu setzen.

Rainer Wegener hat sich zwei Jahre nach dem Test sterilisieren lassen. Entscheidungen wie diese ängstigen ihn nicht. Die Krankheit weiterzugeben, wäre für ihn ein unerträglicher Gedanke. Niemand soll erleben, was er mit seiner Mutter durchgemacht hat: die sechs Jahre Bettlägerigkeit, die Verwandlung einer liebevollen Mama in eine zornige, zynische Frau. Das Stehlen, Schreien, Ausrasten.

Wegener strahlt die Ruhe eines Menschen aus, der alles erledigt hat, was ihm wichtig ist. Er bereiste Nordamerika von Alaska bis San Francisco. Er unternahm unzählige Kletter-, Wander- und Fahrradtouren, schrieb ein Buch mit dem Titel „Getrieben – ein innerer und äußerer Reisebericht“ und fand in Berlin seine Heimat und eine Frau, die stark genug ist, ihn zu lieben. Er hat seinen Glauben an Gott durch jenen an Wissenschaft und Medizin ersetzt. Und er verschwendet keine Zeit mehr mit Menschen, die er nicht mag. „Ich bin glücklich“, sagt er, und wer mit ihm spricht, zweifelt nicht daran.

Natürlich wird es trotzdem schlechter. Neulich beim Bäcker haben sie ihn angemault, weil er das Kleingeld nicht schnell genug abzählen konnte. Und in letzter Zeit stürzt er oft. Mal in der Wohnung, dann fällt er vom Fahrrad. Ein Kratzer über dem rechten Auge ist noch frisch, ein blauer Fleck verblasst gerade. Manchmal hat er cholerische Anfälle. Ein falscher Blick oder fehlende Milch im Kühlschrank reichen in diesen Momenten, und er schreit und tobt. „Seit einem Dreivierteljahr nehme ich Antidepressiva dagegen, das hilft.“ Er schläft besser, ist ausgeglichener. Doch als Nebenwirkung hat er seine Potenz verloren.

Wegener hat seinen Frieden damit geschlossen, dass sein Spielfeld kleiner wird. Statt auf eine Fernreise freut er sich auf den Montagabend in der Pizzeria, die Zeit mit seinen Freunden oder seine Arbeit in einer sozialen Holz- und Restaurierungswerkstatt. Manchmal besucht er eine Selbsthilfegruppe, um anderen Mut zu machen. Und wann immer es geht, fährt er mit dem Rad ins Grüne. Doch auch die Großstadt weiß er zu schätzen: „Ich falle hier gar nicht so auf, es gibt in Berlin viel größere Freaks als mich.“

Während Rainer Wegener versucht, seine Tage so intensiv wie möglich zu füllen, wartet René weiter. Er glaubt, bald sei es so weit. Nicht, weil er irgendetwas merken würde. Es ist nur so ein Gefühl, dass der Tag naht, an dem ihm ein Missgeschick passiert. Eines, das in Wahrheit einen Wendepunkt markiert.

 

Über unsere Autorin

 

NINA HIMMER

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faz.net: Die vergessene Seuche

18. Juni 2019

Die Tuberkulose ist die tödlichste Infektionskrankheit. Lange ignoriert wütet der Erreger besonders in Indien.
Lässt er sich noch aufhalten?

 

 

REPORTAGE: CLAUDIA DOYLE UND MATHIAS TERTILT

ZUM ORIGINAL

 

Als Asim Sarder sich aus dem Dorf schleppt, schlafen seine Schwester und seine Eltern noch. Eine Eiterbeule so groß wie eine Milchpackung drückt auf seine Hüfte, jeder Schritt schmerzt. Der Bauer aus dem Osten Indiens, 26 Jahre alt und schmal, besteigt einen klapprigen Bus und holpert Kalkutta entgegen. Stunden später erreicht er die Ambulanz im Armenviertel. Die Sonne sticht. Sarder wartet.

Seine Hoffnung trägt weiße Socken in Sandalen. Tobias Vogt trifft gegen neun Uhr ein. Der deutsche Arzt, Internist aus dem Rheinland, seit mehr als 15 Jahren für die German Doctors in Kalkutta, läuft die Warteschlange entlang, in der Hand ein Stempelkissen. Abgemagerte, ältere Männer dösen auf dem staubigen Boden, Frauen wiegen ihre wimmernden Babys; einige Kranke wurden auf Holzkarren angeschleppt. Alle werden Vogt und sein Team heute nicht schaffen. Der Stempel ist die Eintrittskarte. Vogt zählt und stempelt die entgegen gestreckten Arme, schnell und mechanisch. Bei hundert hört er auf, wendet sich ab und marschiert in Richtung der Baracke, die heute als Ambulanz dient.

Drinnen knetet ein altersschwacher Ventilator die Luft. Vogt, Bürstenhaarschnitt und kurzer Schnauzbart, setzt sich auf einen Plastikstuhl und beginnt mit der Diagnose der ersten Patienten. Nach etwa einer Stunde tritt Asim Sarder ein. Die Männer kennen sich. Vogt hat Sarder schon einmal behandelt, Dezember 2016, Diagnose Tuberkulose. Wenn Vogt seine Patienten wiedersieht, bedeutet das nichts Gutes.

Asim Sarder ist einer von weltweit mehr als zehn Millionen Tuberkulosepatienten, etwa jeder vierte stammt aus Indien. Die Krankheit ist in den westlichen Ländern in Vergessenheit geraten, obwohl das Bakterium mehr Menschen tötet als jede andere Infektionskrankheit. Allein im Jahr 2016 starben 1,3 Millionen Menschen daran. Weil die Forschung vernachlässigt wurde, ist die einzige Impfung schon hundert Jahre alt und wenig effektiv. Für die Behandlung gibt es kaum neue Medikamente.

Sarder musste jeden zweiten Tag Pillen schlucken, insgesamt 1092. Er sagt, er habe es gemacht. Vogt glaubt ihm. Trotzdem haben einige Bakterien die Behandlung überlebt. Nun leidet Sarder vermutlich an multiresistenter Tuberkulose. Im Idealfall kratzt Vogt aus Spendengeldern die nötigen 22 Euro für einen modernen Gentest zusammen, der in nur zwei Stunden herausfinden kann, ob Sarders Tuberkulose bereits gegen bestimmte Antibiotika resistent ist. Doch alle verfügbaren Geräte rattern schon pausenlos durch und es kann trotzdem Wochen dauern. In solch langen Zeiträumen verliert Vogt Patienten und findet sie nie wieder.

In dieser Zeit infizieren sie weitere Menschen mit Mycobacterium tuberculosis. Mit einem Atemzug gelangt das 1882 von Robert Koch entdeckte Bakterium tief in die Lunge. Weil Immunzellen bei der Vernichtung scheitern, bauen sie dem Erreger ein kugelförmiges Gefängnis. Der ruht geduldig in einer Art Schlafzustand. Doch wenn die Mauern aufplatzen, zerfressen die Bakterien das Knochenmark oder nagen sich ins Gehirn. Am häufigsten wüten sie in der Lunge. Die Patienten husten, verlieren ihren Appetit, magern ab. Unbehandelt stirbt jeder Zweite einen langsam schleichenden Tod.

Offiziell gibt es in Indien seit mehr als zwanzig Jahren ein staatliches Tuberkuloseprogramm. Doch die Erfolge sind mäßig. Viele Diagnosen werden nie gestellt, viele Patienten nie richtig behandelt. Hinzu kommt, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) immer mehr resistente Fälle meldet. Bisweilen helfen auch die härtesten Wirkstoffe nicht mehr. Gerade in den Armenvierteln lebt die vergessene Million, die niemals registrierten Tuberkulosefälle. Das überforderte staatliche Gesundheitssystem dringt gar nicht bis in diese Gassen und Seitenstraßen vor, wo die Arbeit der German Doctors beginnt.

Der Jeep biegt von der Hauptstraße ab, fährt langsam rückwärts. Nach einigen Metern verstummt der Motor. Nilima Malliek öffnet die Hintertür des Wagen. Zusammen mit Salma Bibi und Naruan Neesa, beide Ende 20, steigen sie hinaus auf den staubigen Weg. An dessen Ende erheben sich vor den Sozialarbeiterinnen links und rechts zwei große Müllhaufen, in der Gasse dazwischen wühlen unzählige Schweine nach Essbaren und Menschen nach nützlichen Gegenständen. „So leben die Patienten. Alles ist voll mit Dreck und Müll“, sagt Malliek. Sie hält sich ihren lilafarbenen Sari vor den Mund, stapft unerschrocken über das Gemisch aus Abfall und Exkrementen und steigt über ein verwesendes Ferkel.

Oben auf dem Müllberg stehen kleine Verschläge. Hier lebt einer von Vogts vielen Tuberkulose-Patienten. Vor einer improvisierten Baracke aus Bambus und Folienresten bleiben kurz stehen, dann tritt sie ein. Im dunklen Innern ist die Luft stickig, der Gestank durchdringend. Der Patient, ein junger Mann, vielleicht 30, lebt hier mit seiner Frau und vier Kindern. Es ist überall dasselbe, sagt Malliek, fünf, sechs, sieben Menschen auf wenigen Quadratmetern. Wenn hier jemand hustet, dann dauert es nicht lange, bis sich auch die restlichen Familienmitglieder anstecken.

„Wenn wir keine Hausbesuche machen, dann nehmen die Patienten ihre Medizin nicht“, sagt Malliek. Umso wichtiger ist es, die Patienten während der Therapie zu begleiten und zu motivieren. Die Behandlung dauert zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. Das bedeutet bis zu 15.000 Pillen, viele Injektionen und brutale Nebenwirkungen. Viele stehen das nicht durch und brechen ab. Anfangs hat sich Tobias Vogt darüber noch aufgeregt, doch inzwischen sagt er: „Die sind gar nicht nachlässig oder dumm. Die haben einfach so viele Probleme am Hals.“ Der Patient, dem Malliek regelmäßig Essen bringt, ist der einzige aus der Familie, der arbeiten geht. Jetzt als Tuberkulose-Kranker kann er es nicht mehr. So geht es auch vielen anderen. Manche Eltern wissen morgens nicht, was sie ihren Kindern abends auf den Tisch stellen sollen. Jeder Arbeitstag zählt. Da ist es schwer, jeden zweiten Tag zum Arzt zu laufen.

Die Sozialarbeiter wie Malliek sind in den Vierteln aufgewachsen. Genau deshalb hat Tobias Vogt sie rekrutiert. Einer wie ihr, so hofft Vogt, hören die Menschen eher zu als ihm.

Hinzu kommt, dass viele Inder staatliche Krankenhäuser ohnehin meiden. Dort ist die Behandlung zwar kostenlos, aber oft eine Tortur. Patienten quetschen sich in überfüllte Zimmer, aus Platzmangel werden mitten im Flur Katheter gelegt oder Bäuche aufgeschlitzt. Etwa jeder zweite Inder sucht lieber einen der vielen Privatärzte auf, Männer und Frauen, die zu oft nur wenige Semester in Medizin eingeschrieben waren und nicht mehr sind als Quacksalber. Auch in den Armenvierteln, durch die Vogts Sozialarbeiter streifen gibt es solche Ärzte. An Genesenden verdienen sie weniger Geld. Selbst Tuberkulosepatienten verschrieben sie bisweilen nur ein paar Mittelchen, vielleicht heilige Asche oder Kräuter.

Tobias Vogt hat gelernt, dass er die Tuberkulose hier in Kalkutta nicht mehr von seinen Sprechstunden aus in den Griff kriegen kann. Ein Großteil seiner Arbeit fängt dort an, wo der gewöhnliche Arzt aufhört. Schon vor Jahren hat er einen Deal mit den Quacksalbern in seinen Vierteln geschlossen. Für jeden Tuberkulose-Patienten, den sie ihm schicken, bekommen sie ein Trinkgeld. Wenn staatliches und privates Gesundheitssystem besser verzahnt werden, so die Hoffnung im ganzen Land, dann werde man die Tuberkulose besser in den Griff bekommen. Nun will auch die Regierung solche Kooperationen beginnen. Vor allem, um die unkontrollierte Ausbreitung der Resistenzen zu verhindern.

„Robert Koch würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass wir einen gut zu behandelnden Erreger in einen nahezu unbezwingbaren Gegner verwandelt haben“
ZARIR UDWADIA

Einer der ersten, die auf dieses Problem aufmerksam gemacht haben, war Zarir Udwadia. 2012 schockierte der indische Arzt die Fachleute mit Daten seiner Patienten. Deren Tuberkulose-Erreger waren gegen alle damals verfügbaren Antibiotika resistent. „Robert Koch würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass wir einen gut zu behandelnden Erreger in einen nahezu unbezwingbaren Gegner verwandelt haben“, schimpft Udwadia. Der große, schlanke Mediziner hält am Hinduja Hospital in Mumbai eine Tuberkulose-Sprechstunde. Immer öfter sitzen ihm Patienten gegenüber, denen er nicht mehr helfen kann.

Eine davon war die 18 Jahre alte Shreya Tripathi. „Die Ärzte hatten sie aufgegeben“, erzählt Udwadia. „Sie empfahlen ihr Homöopathie, weil es keine geeigneten Medikamente mehr gäbe.“ Doch das stimmte nicht. Es gab zwei neue Wirkstoffe, Delanamid und Bedaquilin. Seit 2014 empfiehlt die WHO den Einsatz dieser Medikamente. Doch in Indien sind sie nur eingeschränkt verfügbar. Wer sie erhalten will, muss einen Antrag einreichen. Die meisten werden abgelehnt.So ging es auch Tripathi. Ihr Tod galt damit als besiegelt.

Anfang vergangen Jahres wog sie noch 25 Kilogramm. „Sie war ein Skelett“, erzählt Udwadia. Doch die Achtzehnjährige machte ihren Fall öffentlich und zog bis vor den Delhi High Court. Mit Gutachten von Udwadia und einer Harvard-Wissenschaftlerin klagte sie darauf, dass ihr die beiden Medikamente zustehen. Stellvertretend für 130.000 Patienten allein in Indien, die multiresistente Erreger in sich tragen, und etwa 2400, die ohne diese Medikamente der sichere Tod erwartet.

Tripathi bekam Recht und gehört nun zu den weltweit fünf Prozent der Patienten mit extremresistenter Tuberkulose, die adäquat versorgt werden. Die indische Regierung zögert aber noch immer mit der Freigabe der neuen Wirkstoffe. Sie will auf jeden Fall verhindern, dass die Waffen sofort wieder abstumpfen. Zarir Udwadia hat dazu eine deutliche Meinung: „Medikamente zurückzuhalten und Leute sterben zu lassen, weil sich theoretisch Resistenzen bilden können, halte ich für kriminell.“

Mittlerweile frisst sich die Krankheit in Indien durch alle Kasten und Schichten. Vielleicht auch deshalb verkündete Gesundheitsminister Jagat Nadda Anfang 2017: „Wir werden Tuberkulose bis 2025 ausgerottet haben“. Das Land will damit das Ziel der WHO zehn Jahre früher erreichen. Das Tuberkulose-Budget wurde verdoppelt. Erstmals seit Jahrzehnten investiert Indien selbst mehr als ausländische Geldgeber. Doch die Skepsis bleibt. „Wir sind sehr gut darin, Versprechungen zu machen“, kommentiert Udwadia. Er kritisiert die Gesundheitsversorgung schon seit Jahren und hat sich daher in Regierungskreisen viele Feinde gemacht.

Fragt man die Regierungsvertreter, die lieber über Pläne statt Missstände sprechen nach ihren Einschätzungen, verrät zumindest ihr Unterton, dass im Land einiges schief läuft. Viele wollen anonym bleiben, nur wenige sprechen Probleme direkt an. „Überall in der Stadt sieht man Plakate zu Malaria und Dengue. Aber zur Tuberkulose sieht man nichts“, erklärt Dr. Murkherjee, ein Berater des Gesundheitsministeriums in Kalkutta, dass es schon am nötigen Bewusstsein für die Krankheit fehlt. Unter dem Stigma leiden die Patienten.

Infizierte Haushälterinnen, Busfahrer und Lehrer verlieren aus Angst vor Ansteckung ihren Arbeitsplatz. Vermieter werfen Familien aus den Wohnungen. Frauen bangen darum, niemals zu heiraten. Wer schweigt, vermeidet die Schikanen. „Die Alten denken immer noch, Tuberkulose sei eine unheilbare Krankheit. Die vertuscht man lieber“, erzählt Tobias Vogt.

Am Nachmittag verlässt der deutsche Arzt die Slumambulanz und fährt zurück ins Tuberkulose-Krankenhaus St. Thomas Home. Die Einrichtung ist immer ein wenig überbelegt. Doch solange die Spendengelder für die Behandlung reichen, will Vogt den Patienten helfen. Wenige Meter über den schwerstkranken Patienten mit extremresistenter Tuberkulose und HIV wohnt Vogt. Seit mehr als zehn Stunden ist er nun auf den Beinen. Wie jeden Tag gönnt er sich fünf Minuten, um sich frisch zu machen, den Schweiß abzuwischen. Dann marschiert er wieder die wenigen Stufen auf die Krankenstation hinunter.

Die Luft wird von unzähligen, surrenden Ventilatoren an den simplen Bettgestellen Richtung Boden gepustet. Am Krankenbett von Nimola Deby bleibt Vogt stehen, spricht ein paar Worte Bengali. Über die lange Behandlungsdauer lernt er die Patienten kennen, weiß von ihren Umständen, ihren tragischen Familiengeschichten. Das macht es nicht leichter, wenn er einigen Patienten trotzdem nicht mehr helfen kann, sagt er.

Er greift das neueste Röntgenbild aus der Krankenakte und klemmt es an eine Lichtwand. In der Lunge sieht er fast keine Flecken mehr. Die Tuberkulose scheint besiegt. Nach mehr als sechs Monaten kann die 32 Jahre alte Mutter diesen Monat wieder nach Hause zu ihrem Mann und ihrer ältesten Tochter. Dass Vogt vielen Menschen mit nur wenig Geld das Leben retten kann, das hat ihn über all die Jahre hierbehalten. Das gesamte Spendengeld fließt in die Behandlung der Tuberkulosekranken. Für viele sind die German Doctors die letzte Hoffnung. Einige schwierige Operationen bei Tuberkulose im Rückenmark bezahlen in der ganzen Stadt nur Vogt und sein Team.

Doch auch wenn Vogt seine Patienten nun entlassen kann, hört die Therapie nicht auf. Sie muss noch mehr als anderthalb Jahre lang Medikamente einnehmen. Aber das soll nun komfortabler werden. Tobias Vogt steht vor einem großen Regal voller Medikamente. Er zieht einen Karton aus einem großen Regal und holt eine Blisterpackung hervor. Die Patienten erhalten künftig eine Monatsladung Pillen. Er drückt eine Tablette heraus und zeigt, wie sich dahinter eine Telefonnummer verbirgt. Wird die angerufen, registriert ein Computer die Einnahme der Tablette. „Das ist ein abgefahrenes System, wir sind uns noch nicht sicher, ob das funktioniert“, sagt Vogt. Die indische Regierung ist optimistischer. Studien hätten gezeigt, dass die Patienten dadurch länger am Ball blieben. Fraglich ist, ob das ausreicht, um nun in nur acht Jahren die Tuberkulose aus Indien zu verbannen?

“Vielleicht wird Tuberkulose irgendwann gestoppt werden, aber nicht mehr solange ich lebe”, sagt Zarir Udwadia. „Zurzeit wird es immer schlimmer, das wird ihnen jeder bestätigen, der direkt mit Tuberkulose-Patienten arbeitet.“ Das gilt womöglich solange, wie man nur auf die Erreger eindrischt, aber die Ursachen der Infektion nicht bekämpft.

In Deutschland ist die Tuberkulose vor hundert Jahren langsam aus dem Alltag verschwunden. Noch bevor das erste Medikament auf den Markt kam. Einfach, weil sich die Lebensverhältnisse gebessert haben. „So könnte das in zwanzig bis dreißig Jahren auch hier sein“, sagt Tobias Vogt. Dann tritt er wieder auf die vielbefahrene Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite sitzt eine ältere Frau auf einem Müllberg und filetiert Fische.

 

Text: Claudia Doyle und Mathias Tertilt
Umsetzung: FAZ.NET-Multimedia
Die Recherche wurde vom European Journalism Centre durch das Deutsche Journalistenstipendien-Programm Globale Gesundheit gefördert.

 

Über unsere Autorin

CLAUDIA DOYLE

Schwerpunkte:
Biologie, Ökologie, Medizin, Bier

Auszeichnungen:
Stipendiatin der Karl-Gerold-Stiftung, finanzielle Unterstützung der Journalistenausbildung | Journalists Network, Recherchereise nach Kolumbien | European Journalism Centre, Recherchereise nach Indien zum Thema Tuberkulose | Journalistenpreis des Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose

 

 

SZ: Unter Strom

19. Februar 2019

Jahrzehntelang leidet Käthe Meier an schweren Depressionen. Keine Therapie hilft, auch Medikamente bringen wenig. Schließlich legen die Ärzte Elektroden an ihren Kopf, ein Krampfanfall bringt Abhilfe. Die Elektrokonvulsionstherapie kehrt in die Kliniken zurück – mit gutem Grund.

 

 

TEXT: JAN SCHWENKENBECHER

ZUM ORIGINAL

 

Es ist 8.56 Uhr, als der Anästhesiepfleger der 71 Jahre alten Frau Propofol und Succinylcholin in ihre Venen spritzt, ein Narkosemittel und ein Muskelrelaxans. Zwei Minuten später wird ihr Körper erschlaffen. Ärzte und Pfleger warten, es ist eng im kleinen, fensterlosen Zimmer im Erdgeschoss der Mainzer Psychiatrie. Ein paar Apparate stehen herum. „60“, sagt der Anästhesiepfleger nach einer Minute, und zählt runter: „40“, „15“. Es ist kurz vor 9 Uhr, als er „wir dürfen“ sagt, der Assistenzarzt eine Hand-Elektrode an den Hinterkopf der Frau hält und auf „Treat“ drückt. 602,8 Millicoulomb schießen ihr ins Gehirn, Milliarden Neurone richten den Takt ihrer Aktionspotenziale auf den Wechselstromaus, feuern gleichzeitig.Die 71-Jährige bekommt einen Krampfanfall.

Eine halbe Stunde vorher saß die ältere Dame in ihrem mit Blümchen bestickten Nachthemd auf der Kante ihres Bettes auf Station 4, ihre Füße baumeln in der Luft. Ein Vorhang fängt die Blicke umherlaufender Patienten, wenigstens ein bisschen Privatsphäre hier in der Mainzer Psychiatrie. Ihr Name? „Schreiben Sie Meier. Meier, Käthe“, sagt sie. „Das muss ja nicht jeder mitbekommen.“

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Über unseren Autor

 

JAN SCHWENKENBECHER

Schwerpunkte:
Psychologie, Neurowissenschaften, Technik

Qualifikation:
Psychologie-Studium (Bachelor und Master) | Praktika (taz, F.A.S., sueddeutsche.de) | Volontariat (Süddeutsche Zeitung)

Auszeichnungen:
Shortlist: Georg von Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus 2018 (Kategorie Nachwuchs)
Nominiert: Deutscher Reporterpreis 2018, Kategorie Investigation

 

Psychologie Heute: Hautsache gesund

10. August 2015

Die Haut ist Spiegel, Grenze und Antenne zugleich: Leidet die Psyche, wird sie krank. Ist sie krank, leidet die Psyche. Der Psychodermatologe Kurt Seikowski über das Wechselspiel von Haut und Seele – und die Parallelen zu einem Radiogerät.

 

INTERVIEW: DR. LISA AUFFENBERG

ZUM ORIGINAL

Herr Seikowski, die deutsche Sprache ist voller Redewendungen, die Haut und Psyche verknüpfen: Situationen gehen uns unter die Haut, sind zum aus der Haut fahren oder jucken uns nicht. Hat der Volksmund recht damit?

An diesen Beispielen ist schon etwas Wahres dran. Aber man muss aufpassen, dass solche Sprichwörter nicht zu simplen Etikettierungen werden. Früher hat man gesagt: Ärger schlägt sich auf den Magen oder Menschen mit Herzbeschwerden werden zu wenig geliebt. Diese Denkweise spielt heutzutage zum Glück keine Rolle mehr, denn sie kann Patienten stigmatisieren. Vor allem hierzulande: Wir sind ein sehr rationales Volk, hier möchte niemand psychische Probleme haben.

Wie passend ist dann die Metapher: „Die Haut ist der Spiegel der Seele“?

Unsere Haut und unsere Psyche sind eng miteinander verbunden. Emotionale Reaktionen werden auch über die Haut ausgelebt. Man kann erröten oder erblassen, eine Gänsehaut kriegen oder vor Aufregung schwitzen. Schließlich ist die Haut ein Ausdrucksorgan: Jeder kann sehen, ob wir uns in unserer Haut wohlfühlen.

Oder ob wir an einer Hauterkrankung leiden.

Genau. Wer uns sieht, sieht unsere Haut. Man kann sich nicht dafür entscheiden, von niemandem gesehen zu werden. Man kann sich vielleicht verkriechen oder die erkrankten Stellen mit Kleidung bedecken, aber der Leidensdruck ist in jedem Fall da. Die Haut spielt in der heutigen Zeit eine große Rolle. Das sehen Sie daran, dass die Pharmaindustrie mit ihren Kosmetikartikeln unwahrscheinlich viel Geld verdient. Es gibt unzählige Ratgeber und Produkte für die richtige Hautreinigung, Kosmetik und Pflege. Alle wollen schön aussehen und eine glatte, junge Haut haben.

Weil unsere Haut auch eine soziale Funktion hat?

Als äußere und sichtbare Hülle trägt die Haut erheblich dazu bei, wie die Umwelt uns wahrnimmt. Aber sie erfüllt noch weitere Funktionen. Sie ist auch ein Grenzorgan zwischen einer Person und ihrer Umgebung. Die Haut schützt uns, gleichzeitig treten wir über sie in Kontakt mit der Außenwelt. Unser Tastsinn ermöglicht uns, Wärme, Kälte oder Schmerz zu fühlen. Deshalb hat die Haut auch zwischenmenschliche Bedeutung: Sie dient der körperlichen Berührung genauso wie der Abgrenzung. Vom Händedruck über das Streicheln bis hin zur Sexualität ist sie ein entscheidender Teil sozialer Interaktion.

Studien zeigen, dass Patienten mit Hauterkrankungen im täglichen Miteinander keinen leichten Stand haben und unter neugierigen Blicken oder unangebrachten Bemerkungen oft sehr leiden. Gleichzeitig weiß die Forschung mittlerweile, dass psychische Probleme zu Hauterkrankungen führen können. Wie identifiziert man in diesem Wechselspiel, was Henne und was Ei ist?

Man kann fünf verschiedene Typen von psychosomatischen Hauterkrankungen herausfiltern und klassifizieren – je nach Rolle von psychischen und somatischen Faktoren. Es gibt zum einen Krankheitsbilder, die eine rein psychische Angelegenheit sind. Darunter fallen vor allem hautbezogene Phobien. Zum Beispiel der Dermatozoenwahn, bei dem Betroffene glauben, dass kleine Tierchen unter der Haut wohnen. Die zweite Gruppe bilden Hauterkrankungen, bei denen sich keine organische Ursache finden lässt, die sich aber somatisch äußern, etwa durch starken Juckreiz. Die Symptome werden oft durch psychische Anspannung ausgelöst. Da gibt es etwa die Prurigo simplex subacuta, bei der schubweise juckende Knötchen auftreten. Bei der dritten Gruppe nimmt man an, dass somatische und psychische Einflüsse gleichermaßen eine Rolle spielen.

Körper und Kopf wirken bei diesen Patienten zusammen?

Genau. Da gehört zum Beispiel die Urtikaria hin, im Volksmund Nesselfieber. In einer Studie haben wir herausgefunden, dass nur bei etwa zehn Prozent eine Allergie oder Unverträglichkeit nachweisbar ist. Bei 90 Prozent wird die Krankheit vordergründig von der Psyche angestoßen.

Urtikaria-Patienten leiden unter roten, juckenden Quaddeln auf der Haut, die manchmal sogar die Schleimhäute betreffen und Atemnot verursachen. Welche seelischen Nöte können derartige Schwellungen auslösen?

Die meisten Betroffenen haben gar keine großen psychischen Probleme. Sie haben primär ein Entspannungsdefizit, vor allem die Patienten ab 40 Jahren aufwärts. In dieser Zeit nimmt die Leistungsfähigkeit ab und der Körper braucht mehr Erholung. Wer das nicht berücksichtigt, bei dem kann sich der Stress auf der Haut widerspiegeln. Der Körper signalisiert dem Kopf, dass er mit der jetzigen Situation nicht einverstanden ist.

Andere kriegen einen nervösen Magen oder Haarausfall. Wie kommt es, dass bei manchen Menschen gerade die Haut protestiert?

Die Forschung weiß noch nicht genau, warum Menschen körperlich auf unterschiedliche Arten reagieren. Das sogenannte Diathese-Stress-Modell geht aber davon aus, dass jeder Mensch von Geburt an gewisse Erkrankungen in sich trägt. Jeder hat eine Veranlagung, auf Stress mit ganz bestimmten Beschwerden zu reagieren.

Bei manchen Krankheitsbildern ist aber auch nicht der Stress alleine schuld, oder?

Stimmt, bei der Schuppenflechte oder der Neurodermitis spielen zum Beispiel genetische Faktoren eine Rolle. Sie fallen in die vierte Klasse der Hauterkrankungen, bei denen  die Psyche nicht die Ursache ist, aber den Verlauf beeinflusst. Bei der fünften Gruppe hat die Psyche überhaupt keinen Einfluss auf die Entstehung oder den Verlauf – aber auf die Krankheitsverarbeitung. Bei Diagnosen wie dem schwarzen Hautkrebs zeigt sich ein Effekt, der als somatopsychisch bezeichnet wird: Somatische Erkrankungen haben psychische Folgen. In der Psychotherapie geht es deshalb darum, wie Patienten besser mit der chronischen Erkrankung leben können.

In der Dermatologie wurden psychische Einflussfaktoren lange nicht ernstgenommen. Heute werden manche Krankheitsbilder dagegen schon fast psychologisiert. Besteht die Gefahr, mit Hauterkrankungen schnell in die „Psychoecke“ abgeschoben zu werden?

Absolut, das passiert sehr oft. Deshalb rate ich meinen Patienten immer, wenn sie mit anderen Beschwerden zum Arzt gehen wollen: „Erzählen Sie bloß nicht, dass Sie mal in Therapie waren.“ Gerade bei Hauterkrankungen findet man häufig keine formelle Ursache. Da wird eine Salbe nach der anderen ausprobiert, und wenn alles nichts hilft, dann können die Beschwerden aus Sicht vieler Ärzte nur psychisch bedingt sein. Aber dieser Schluss ist natürlich Blödsinn. Was glauben Sie, wie viele Patienten mit Schilddrüsenerkrankungen ich schon herausgefischt habe, bei denen dieser Zusammenhang einfach nicht untersucht wurde?

Wenn die dermatologische Diagnostik tatsächlich keine Ursache finden kann: Wie stellen Sie fest, ob psychische Probleme schuld an den Symptomen sind?

Ich kläre zunächst ab, unter welchen Bedingungen die Beschwerden auftreten. Tritt der Juckreiz zum Beispiel vermehrt abends auf, spielt die Psyche oft eine große Rolle. Der Körper will zur Ruhe kommen und schafft es nicht von alleine. Also produziert er Juckreiz, damit das Kratzen für Entspannung sorgen kann. Ich frage auch: Wann gingen denn die Hauterscheinungen los? Hatten Sie da eine Krise in der Beziehung oder Konflikte am Arbeitsplatz? Was war beim letzten Schub grade so los? Die Besonderheit des psychosomatischen Erstgesprächs liegt ja darin, dass wir 50 Minuten Zeit haben. Die hat der Dermatologe in seiner Sprechstunde nicht.

Wie geht es dann weiter?

Im zweiten Schritt arbeiten wir mit testpsychologischen Verfahren. Patienten bekommen Fragebögen in die Hand, die zum Beispiel messen, wie groß die Belastung durch die Krankheit aktuell ist. Da kommen handfeste Zahlen heraus, mit denen wir gut arbeiten können. Auf deren Basis erstelle ich Stress- und Persönlichkeitsprofile als Kurvendiagramme. Damit sehen die Patienten: Aha, da liege ich noch im Normbereich und in diesem Punkt bin ich schon drüber. So verstehen sie, dass die Psyche eine Rolle spielt und lassen sich meistens auf eine Psychotherapie ein. Nach einer oft sehr langen Odyssee haben sie endlich wieder die Hoffnung, dass ihnen geholfen werden kann. In der Therapie wird dann alles, was an Problemen auftaucht, systematisch abgearbeitet.

Gibt es denn typische Probleme, die Ihnen immer wieder begegnen?

Bei Zweidritteln geht es um objektiven Stress, vor allem beruflicher Natur. Einerseits um Überlastung, andererseits um Arbeitslosigkeit. Die einen müssen zu viel leisten, die anderen können zu wenig arbeiten. Das restliche Drittel sind Menschen mit Partnerschaftsproblemen.

Sie graben in der Therapie also nicht nach traumatischen Erlebnissen und schweren Schicksalsschlägen?

Nein, da muss man wirklich aufpassen. Als ich vor vielen Jahren in der Psychodermatologie anfing, stürzten sich die Therapeuten auf vermeintlich schwere psychische Probleme. Dabei geht es in vielen Fällen schlicht um Anspannung und Stress. Zu mir kommen Patienten, die schon jahrelang Medikamente eingenommen haben, und dann mache ich mit ihnen eine Technik wie autogenes Training – nach einem Vierteljahr ist die Hauterkrankung weg. Das ist schon erstaunlich.

Und sehr effektiv.

Ja, man kann den Patienten oft mit relativ wenigen Konsultationen sehr gut helfen. Als Therapeut hat man viele Erfolgserlebnisse und spart dem Gesundheitssystem einiges an Geld, denn die Patienten brauchen weniger stationäre Aufenthalte und Medikamente. Leider haben viele Hautärzte damit ein Problem. Die suchen Ewigkeiten nach einer Ursache, finden nichts, und dann kommt so ein Psychologe daher und sagt: „Denen fehlt einfach nur Entspannung.“

Aber auch für Betroffene ist die Frage nach der Ursache sehr wichtig. Wie gehen Sie in der psychosomatischen Behandlung damit um, wenn sich keine organischen Auslöser finden lassen?

Ich erkläre meinen Klienten immer, dass Beschwerden verschiedene Ursachen haben können, auch wenn sie gleichermaßen unangenehm sind. Dabei hilft ein Beispiel: Wenn ein Radio nicht mehr richtig spielt, dann ist vielleicht irgendein Teil kaputt. Man fummelt daran herum, tauscht es eventuell aus und danach geht das Radio wieder. Dieses Vorgehen entspricht den somatischen Beschwerden. Es kann aber auch sein, dass das Radio nicht funktioniert, obwohl jedes Teil für sich in Ordnung ist. Wenn nämlich die Stromstärke nicht stimmt. Bei zu viel Strom knallt das Radio durch, mit zu wenig Strom passiert gar nichts mehr. So ist es auch mit dem Nervensystem im Körper: Es verbindet alle Teile im Körper und koordiniert sie. Wenn es nicht richtig funktioniert, kann eine Störung auftreten. Diesen Vergleich verstehen die meisten.

Die Forschung weiß mittlerweile, dass Gefühle wie Stress, Trauer oder Wut immunolgische Reaktionen im Körper auslösen und die Aktivität vieler Nervenbotenstoffe in der Haut verändern. Welche Konsequenzen haben diese Erkenntnisse für die praktische Arbeit mit Patienten?

Die Psychoneuroimmunologie will herausfinden, wie das psychische Problem in die Haut kommt. Dieser Forschungstrend geht dahin, die zugrundeliegenden Prozesse stärker zu objektivieren. Damit läuft die Therapie letztlich wiederum auf Medikamente hinaus.

Ist das eine Chance oder eine Gefahr?

Das ist eine gesellschaftspolitische Frage. Es gibt genügend Menschen, die wollen sich nicht mit ihrer Psyche beschäftigen, sondern einfach nur Symptome loswerden. Die greifen gerne zur Pille, um wieder einigermaßen zu funktionieren. Der Markt ist also definitiv da. Und nachdem sich die Forschung vor allem über Gelder der Pharmaindustrie finanziert, wird die Behandlung vor allem auf der pharmakologischen Ebene weiterentwickelt. Das sehen wir ja bei Viagra und Co.

Macht sich diese Entwicklung bei Hauterkrankungen auch schon bemerkbar?

Ja klar. Nach einem Vortrag von mir sagten die Manager eines großen Pharmaunternehmens, das unter anderem Medikamente für Urikaria-Patienten produziert: „Sie wollen wohl unseren Umsatz schmälern.“ Durch Psychotherapie kann man die Betroffenen ruck zuck heilen. Über Medikamente kann man sie jahrelang binden.

Gerne wird der modernen Arbeitswelt bescheinigt, die Menschen permanentem Stress auszusetzen – ein Hauptrisikofaktor nach Ihrer Erfahrung. Beobachten Sie gesellschaftliche Entwicklungen, die Hauterkrankungen begünstigen?

Sicher. Das gilt für Hauterkrankungen wie für alle anderen psychosomatischen Beschwerden. Deutschland ist ein Land, das mit immer weniger Leuten immer mehr Arbeit bewältigen will. Das kann nicht funktionieren und lässt wenig Platz für Erholung. Auch die vielen Negativnachrichten in den Zeitungen und Sendungen gehen nicht spurlos an den Leuten vorbei. Soziale Medien sorgen zusätzlich für eine Informationsüberforderung und Vereinsamung. Jeder sitzt vor seinem eigenen Bildschirm, die Beziehung zueinander bleibt auf der Strecke. In der Folge findet immer weniger Körperkontakt und Sexualität statt, obwohl beides eine wichtige Entspannungsfunktion hat. Diese Entwicklung kann man nicht zurück drehen – aber man muss einen Umgang damit finden, der nicht unter die Haut geht.

 

Dr. Kurt Seikowski ist Psychodermatologe am Universitätsklinikum Leipzig. Als Diplompsychologe und Psychotherapeut behandelt er Patienten mit chronischen Hauterkrankungen. Er ist (Mit-) Herausgeber und Autor zahlreicher Bücher, unter anderem Die Haut und die Sprache der Seele: Hautkrankheiten verstehen und heilen, Einführung Psychodermatologie und Haut und Psyche: Medizinisch-psychologische Problemfelder in der Dermatologie.

 

 

Über unsere Autorin

 

DR. LISA AUFFENBERG

Schwerpunkte:
Medizin, Gesundheit, Psychologie, (Berg-)Sport

Auszeichnungen:
WISSENSWERTE-Recherchestipendium für Medizinjournalisten
Wegweiserpreis für Nachwuchsjournalisten
Stipendiatin im Nachwuchsförderprogramm der Journalisten-Akademie (KAS)
Stipendien der FAZIT Stiftung und der Studienstiftung des deutschen Volkes

 

Focus Gesundheit: Ein (fast) normales Leben

2. Juni 2015

Neue Medikamente bremsen das Fortschreiten der multiplen Sklerose. Trotz ihrer Einschränkungen bewahren sich viele Patienten einen aktiven Alltag.

 

TEXT: STEFAN SCHWEIGER

MEDIUM: FOCUS GESUNDHEIT

Jetzt erst recht. Dieser Satz fällt häufig, wenn man sich mit Tanja Landmann unterhält. Kräftig tritt sie in die Pedale ihres Fahrrads, die kleine Anhöhe im Park hinauf. Drei Räder hat das Gefährt. Ein „Behindertenrad“ ist es aber nicht, darauf legt die Münchnerin Wert. Auf der Vorderachse ist eine hölzerne Box montiert, darin die Hundedame Alice und Landmanns Gehstock.

Solange es noch geht. Dieser Satz ist für Tanja Landmann untrennbar mit dem „Jetzt erst recht“ verbunden. Er beschreibt die harte, aber realistische Perspektive einer 34-jährigen Frau, die an multipler Sklerose leidet. Von „meiner MS“ spricht Tanja Landmann wie von einem Begleiter, der sich am 8. Oktober 2003, ihrem „Jubiläumstag“ der Diagnose, ungefragt an ihre Fersen geheftet hat und nicht mehr aus ihrem Leben verschwindet.

Landmann war damals 23 Jahre alt. Sie hatte plötzlich Doppelbilder gesehen. Der Verdacht auf einen Hirntumor erhärtete sich nicht. Dafür die Diagnose MS. Beim Gehen stützt sich Landmann auf den Stock, das Gleichgewichtsgefühl ist aus dem Takt geraten. Am meisten nervt sie das Augenzittern. Ein ruhiger Horizont zittert im Blickfeld wie bei einem Erdbeben. Multiple Sklerose ist nach der Epilepsie die zweithäufigste neurologische Erkrankung im jungen Erwachsenenalter. 130 000 Menschen leiden in Deutschland unter der Autoimmunerkrankung, mindestens doppelt so viele Frauen wie Männer. Die meisten sind zwischen 20 und 40 Jahre alt, wenn sich die Symptome erstmals bemerkbar machen: eine Lebensphase, in der die jungen Patienten die Weichen für ihr späteres Leben stellen. Karriere machen, eine Familie gründen, ein Haus bauen.

Plötzlich wird das Immunsystem, das eigentlich Bakterien und Viren abwehren soll, selbst zum Aggressor. Aus noch unbekannten Gründen dringen T-Zellen, weiße Blutkörperchen des Immunsystems, in Gehirn oder Rückenmark ein. Eine fehlgeleitete Abwehrreaktion verursacht an den Nervenfasern stecknadel- bis euromünzengroße Entzündungen. Die Myelinschicht, die die Nervenbahnen wie eine Isolierhülle umgibt, wird zerstört. Die Reizweiterleitung gerät ins Stocken. Muskeln am Ende der betroffenen Nervenbahn erhalten nur noch unvollständige Signale.

Nach der Diagnose schaltete Tanja Landmann um auf „Jetzt erst recht“. Sie ging als Tourmanagerin einer Band auf Welttournee. Als selbstständige Office Managerin zog sie große Kunden an Land. Sie ritt halb professionell, war oft beim Klettern. Ohne Sicherungsseil. „Das waren meine erfolgreichsten Jahre“, sagt sie. „Man sah mir meine Krankheit ja nicht an.“ Im Hinterkopf war aber immer die Frage: „Wie lange noch?“ Schubweise hatte sie mehr Probleme beim Laufen. Irgendwann kaufte sie den Stock. Die Brillengläser wurden dicker.

So verschieden die Symptome von Patient zu Patient sind, so unterschiedlich verläuft auch die Krankheit. Manche sind schon bald auf einen Rollstuhl angewiesen. 30 Prozent der Betroffenen haben dagegen lebenslang kaum sichtbare Beschwerden. „Den durchschnittlichen MS-Patienten gibt es nicht“, sagt Tjalf Ziemssen, Leiter des Multiple Sklerose Zentrums am Universitätsklinikum Dresden. Für eine exakte Prognose seien die Verläufe individuell zu unterschiedlich. „Statistische Spielchen bringen den Patienten nichts.“ Mit dieser Ungewissheit umzugehen sei für viele Patienten mindestens so belastend wie die körperlichen Beschwerden selbst, weiß der Neurologe und Psychiater Martin Meier. Die Marianne-Strauß-Klinik am Starnberger See ist die einzige deutsche Fachklinik für multiple Sklerose. Meier leitet dort eine Station, die die Patienten auch neurologisch-psychiatrisch betreut. Viele würden nach der Diagnose in eine Depression rutschen, sagt Meier. Andere leiden unter dem Fatigue-Syndrom, also schweren Erschöpfungszuständen, körperlich wie seelisch. Dann heißt es, die eigenen Leistungsgrenzen neu festzulegen.

Mit den Patienten konzentriert sich Meier nicht nur auf die Defizite, sondern vor allem darauf, welche Fähigkeiten sie trotz ihrer Krankheit noch haben: „Am wichtigsten ist es, die Kontrolle über das eigene Leben aufrechtzuerhalten.“ Auch Stefan Hausner lernte dort, sich nicht vollständig von der Krankheit dominieren zu lassen. Der 32-jährige Informatiker läuft mit der Geschwindigkeit eines gemächlichen Spaziergangs. Schneller geht es nicht. „Aber ich kann laufen“, sagt er. Stefan Hausner erhielt die MS-Diagnose im Sommer 2007. Immer wieder war eines seiner Beine taub, es fühlte sich dumpf an, als ob es eingeschlafen wäre. Der Münchner versuchte trotzdem, aufs Fahrrad zu steigen, stürzte und brach sich das andere Bein. Mit Krücken konnte er nicht laufen, das taube Bein machte nicht mit. Nach neurologischen Tests wurde Hausner in den Magnetresonanztomografen (MRT) geschoben. „Löchrig wie ein Käse“ sei sein Gehirn auf den Aufnahmen gewesen. Gehen Nervenzellen unter, hinterlassen die Entzündungsherde in der Hirnsubstanz Verhärtungen, die sogenannte Sklerose. Auf den MRT-Bildern sind das weiße Punkte. Letzte Gewissheit brachte eine Untersuchung des Nervenwassers, das ihm aus dem Wirbelkanal entnommen wurde. „Wie in einem Mosaik setzt sich aus mehreren Untersuchungen ein klares Bild zusammen“, erklärt Reinhard Hohlfeld, Direktor am Institut für Klinische Neuroimmunologie am Universitätsklinikum der LMU München.

Das Bild von Stefan Hausners Zukunft zeigte für ihn damals vor allem einen Rollstuhl. Nach wie vor verbinden viele Menschen die Krankheit MS vorerst mit schwerer Behinderung. Doch diese Vorstellung entspricht den begrenzten therapeutischen Möglichkeiten der Vergangenheit. „Es ist noch nicht lange her, da war die multiple Sklerose tatsächlich therapeutisches Niemandsland“, erinnert sich Hohlfeld. Bei einem akuten Schub verschrieben Ärzte hochdosierte Cortisonpräparate, um die Entzündungen zu stoppen. Das ist bis heute die gängige Therapie während eines Schubs. Bis in die 90er-Jahre gab es aber kein Medikament, um die Entzündungsschübe möglichst ganz zu verhindern.

Das änderte sich, als der Wirkstoff Beta-Interferon für MS zugelassen wurde. Diese Medikamente drosseln die Produktion von entzündungsauslösenden Stoffen. Wenn es anschlägt, sind Schübe bis zu 30 Prozent seltener. Zuletzt geriet Interferon aber in die Kritik, weil es das Risiko für Nierenschäden erhöhen soll. Stefan Hausner setzte sich alle zwei Tage eine Spritze in den Oberschenkel oder den Bauch, spürte aber vor allem Nebenwirkungen wie Fieber und Kopfschmerzen. Trotz Beta-Interferon hatte er bis zu fünf Schübe pro Jahr: taube Beine, Doppelbilder, Probleme mit der Blase.

In solchen Fällen gehen Ärzte von der Basis- zur Eskalationstherapie über. Fünf Jahre lang erhielt Hausner anschließend monatlich eine Infusion mit dem Wirkstoff Natalizumab. Der monoklonale Antikörper soll verhindern, dass Leukozyten die Blut-Hirn-Schranke passieren und in das Nervensystem eindringen. Seitdem hatte Hausner keinen Schub mehr.

Gegen keine andere neurologische Erkrankung wurden in den vergangenen Jahren so viele neue Substanzen zugelassen wie gegen MS. „Die Erkrankung ist ein lukrativer, hart umkämpfter Markt für die Pharma-Industrie“, berichtet Neurologe Ziemssen. „Die Patienten sind jung und ihr restliches Leben auf Medikamente angewiesen.“ Natalizumab greift aber tief in das Immunsystem ein. Mit jedem Therapiejahr steigt das Risiko für eine oft tödlich verlaufende Infektion des Nervensystems. „Je besser ein Medikament gegen die MS wirkt, desto schwieriger ist das Management der Therapie“, sagt Ziemssen. Am besten seien die Patienten dann an spezialisierten Zentren aufgehoben.

Stefan Hausner versucht es nun mit Fumarsäure, ursprünglich zur Behandlung der Schuppenflechte entwickelt. Sie programmiert Zellen des Immunsystems um und soll so Entzündungen im Gehirn verhindern. Zwei Tabletten pro Tag sind zudem angenehmer als Spritzen oder Infusionen. Die Hälfte der Schübe kann Fumarsäure laut Studien verhindern. Ein ähnlich erfolgreicher neuer Wirkstoff ist Alemtuzumab. Ähnlich wie bei einer Chemotherapie reduziert er die Zahl der T-Lymphozyten drastisch. Auch Alemtuzumab ist ein wissenschaftlicher Zufallsfund, zuvor wurde es gegen eine spezielle Form der Leukämie eingesetzt.

Wichtig ist, dass die Patienten möglichst früh die richtigen Medikamente erhalten, bevor bleibende Schäden entstehen. „Leider kommen die Patienten erst zu uns, wenn die Kaskade bereits begonnen hat“, sagt der Münchner Neurologe Hohlfeld. Ihn ärgert es, dass die Wirkstoffe nach wie vor nicht an der Wurzel der Krankheit ansetzen. „Wir können MS bis heute nicht heilen, sondern nur im Verlauf abmildern.“ Wo der Auslöserknopf sitzt, der die T-Zellen plötzlich gegen den eigenen Körper aufhetzt, weiß die Forschung bis heute nicht. Genau dahin möchte Hohlfeld aber vordringen.

Wissenschaftler vermuten, dass ein Mangel an Vitamin D das MS-Risiko erhöhen könnte. Das Hormon bildet sich unter Sonneneinstrahlung in der Haut. Das würde erklären, warum der Anteil der MS-Patienten in Regionen niedriger ist, die näher am Äquator liegen. Sicher sei nur, dass es eine Mischung aus genetischen Faktoren und Umweltbedingungen ist, die die Krankheit in Gang setzt, sagt Hohlfeld. Der Einfluss der Genetik sei geringer als einst gedacht. Das weiß man aus Untersuchungen von eineiigen Zwillingspaaren. „Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Geschwister an MS litten, liegt unter 30 Prozent.“

Hohlfeld sucht nach Auslösern im Darm, genauer in den Milliarden winziger Mikroben, die die Darmflora bilden. Schon länger stehen die Darmbewohner im Verdacht, das Immunsystem entscheidend zu beeinflussen. Am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München züchtete Hohlfelds Kollege Hartmut Wekerle genetisch veränderte Mäuse. „Sie entwickelten nur dann eine der menschlichen MS ähnliche Entzündung im Gehirn, wenn sie unter normalen Umweltbedingungen gehalten wurden, also eine normal ausgeprägte Darmflora besaßen“, erklärt Hohlfeld. Wuchsen die Mäuse hingegen unter keimfreien Bedingungen auf, blieben sie gesund. Die Forscher möchten herausfinden, was die Darmflora gesunder Menschen von der MS-Kranker unterscheidet. Hierfür untersuchen sie Stuhlproben von eineiigen Zwillingspaaren. Jeweils ein Geschwister leidet an MS. Das langfristige Ziel ist, eine bestimmte Diät oder Medikamente zu finden, die eine gesunde Darmflora fördern.

Zwar sind noch viele Fragen unbeantwortet. Hohlfeld ist aber zuversichtlich, dass junge Patienten wie Stefan Hausner und Tanja Landmann dank ihrer Jugend noch von Erfolgen der Forschung profitieren werden. Darauf allein will sich die 34-Jährige aber nicht verlassen. Sie hat gelernt, mit ihren Einschränkungen gut zu leben. Einst war Multitasking die Stärke der Münchnerin. Heute konzentriert sie sich auf das Wesentliche. Wird es ihr zu viel, legt sie eine Ruhepause bei einer Tasse Tee ein. „Ich hadere nicht“, sagt sie. „Dafür habe ich keine Zeit.“

Über unseren Autor

 

STEFAN SCHWEIGER

Schwerpunkte:
Gesundheit, Medizin, Digitalisierung, Psychologie, Gesundheitspolitik, Musik, Suchmaschinenoptimierung (SEO)

Qualifikation:
Diplom-Soziologe (LMU München & Université Paris V, Nebenfächer Politik & Volkswirtschaftslehre)
42. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule

Auszeichnungen:
Medienpreis Print der Deutschen Depressionshilfe

Tour: Der Sportler-TÜV

1. Juni 2015

Einmal im Jahr sollten Hobby-Radfahrer ihren Körper auf Belastbarkeit überprüfen lassen – erst recht, wenn sie an Wettkämpfen teilnehmen. Wir haben an der Uni München einen sportmedizinischen Check samt Laktattest absolviert.

 

 

REPORTAGE: SINA HORSTHEMKE

MEDIUM: MAGAZIN TOUR

 

Was gäbe ich jetzt für etwas Fahrtwind. Eine Brise im Gesicht, einen Windhauch auf der Stirn – zur Abkühlung! Aber nein. Kein Lüftchen ist zu spüren, obwohl ich mit einer Trittfrequenz von 78 Umdrehungen pro Minute energisch in die Pedale trete. Eine Schweißperle rinnt mir den Nasenrücken hinab und tropft auf den Linoleumboden. Meine Oberschenkel ziehen, die Schläfen pochen. Ich atme schwer und spüre, dass ich erröte. Wie ein Untrainierter, der nach Weihnachten auf die Idee kommt, joggen zu gehen.

Obwohl ich inzwischen fast mit aller Kraft trete, komme ich keinen Meter voran. Vor mir: das geschlossene Fenster. Neben mir: die medizinische Fachangestellte Kathrin Hedler vom Münchner Zentrum für Prävention und Sportmedizin am Klinikum rechts der Isar. Schon wieder bittet sie mich nun, den rechten Arm vom Lenker zu nehmen, damit sie meinen Blutdruck messen kann. Ausgerechnet jetzt! Längst brauche ich auch die Arme, um meinen Beinen für ihre Arbeit ein Widerlager zu bieten. Sonst kann ich die Kurbeln nicht mehr lange in der geforderten Frequenz kreiseln lassen. Als ich den Lenker für die Messung loslasse, protestiert meine Oberschenkelmuskulatur mit einem Brennen. Fühlt sich so Laktat an?

Laktat, das Salz der Milchsäure, produziert ein Muskel, wenn ihm bei der Arbeit zu wenig Sauerstoff zu Verfügung steht. Diesen bekommt er über das Blut, welches das Gas aus der Lunge im ganzen Körper verteilt. Bei großer Anstrengung reicht der Sauerstoff aus der Luft trotz stärkerer Atemarbeit nicht aus. Zwingt der Kopf die Muskeln dennoch zur Weiterarbeit, machen sie ohne Sauerstoff weiter – und dabei fällt eben Laktat an. Kommt der Körper mit dessen Abbau nicht nach, übersäuern die Muskeln und die Leistung bricht ein.

Ich strample auf diesem Ergometer, weil ich heute ganz genau wissen will, ab welcher Belastung meinen Muskeln der Sauerstoff ausgeht, schlicht gesagt: wie fit ich bin. Gerade denke ich: nicht besonders. Ich versuche, das Brennen in den Beinen zu ignorieren, doch binnen der nächsten zwei Minuten sinkt meine Trittfrequenz auf 60, obwohl ich mit aller Kraft dagegen arbeite. Mein Puls rast, die Lunge brennt, die Oberschenkel beginnen zu zittern. Ich gebe auf. Das war’s – mehr geht nicht. Während der Schmerz nachlässt und ich wieder zu Atem komme, drückt Kathrin Hedler auf meinem Ohrläppchen herum. Ein Tropfen Blut verschwindet im Teströhrchen. Das Messgerät zeigt später an: Er enthält umgerechnet elf Millimol Laktat pro Liter. Der Beweis, dass mein Muskelstoffwechsel am Limit war.

Einmal im Jahr zum Check

Warum ich mir das antue? Weil ich sichergehen will, dass mein Training keinen Schaden anrichtet. Meine letzte sportärztliche Untersuchung liegt einige Jahre zurück. Bevor ich mich für die kommende Saison wieder ins Training stürze, sollen Ärzte prüfen, ob mein Herz und mein Kreislauf intensiven sportlichen Belastungen noch gewachsen sind. Zudem brauche ich meine aktuelle Form schwarz auf weiß, weshalb ich zusätzlich zur Basis­-Untersuchung einen Laktattest gebucht habe. Er soll zeigen, was im Winter zu tun ist, wenn ich 2019 fit am Start stehen möchte.

„Hobbysportlern, die an Wettkämpfen teilnehmen, empfehlen wir eine sportärztliche Basisuntersuchung einmal pro Jahr, wahlweise mit zusätzlicher Laktat-­Leistungsdiagnostik“, sagt Dr. Katrin Esefeld. Die 36­Jährige ist Funktionsoberärztin am Münchner Zentrum für Prävention und Sportmedizin, wo ich soeben den Fußboden vollgeschwitzt habe. Auf dem Rad macht der zweifachen deutschen Meisterin im Duathlon kaum eine etwas vor. Wie schon mehrere Male schaffte sie es auch 2018 beim Ironman Hawaii, der Weltmeisterschaft der Triathleten, aufs Podium ihrer Altersklasse – auch dank eines starken Radsplits, wie die Triathleten die 180 Kilometer nennen.

Dr. Esefeld, Sportmedizinerin und Fachärztin für Innere Medizin, weiß genau, dass eine ver­säumte Herzuntersuchung im schlimmsten Fall fatale Folgen hat: „Unter intensiver Belastung können ein unentdeckter Klappenfehler oder ein verschleppter Infekt zum plötzlichen Herztod führen.“ Fast 60 Sportler, meist Läufer oder Fußballspieler, sterben allein in Deutschland jedes Jahr daran. Die meisten sind ambitionierte Hobbyathleten. Ab dem 35. Lebensjahr ist es vor allem die koronare Herzkrankheit, die für Todesfälle im Sport verantwortlich ist. Bei Jüngeren liegen meist Herzmuskelerkrankungen zugrunde, angeborene Fehlbildungen der Gefäße oder Herzmuskelentzündungen. In Ländern wie Italien und Frankreich sind Hobbysportler deshalb längst verpflichtet, vor dem Start bei etwa einem Radmarathon die Bescheinigung eines Sportmediziners vorzulegen, dass sie der Belastung gewachsen sind. In Deutschland sind sportärztliche Gesundheits­-Checks freiwillig. Obwohl immer mehr Krankenkassen die Kosten für die Basis­-Untersuchung zumindest teilweise übernehmen, lässt sich aber nur jeder zweite Ausdauersportler durchchecken.

So wie ich – die vor dem Belastungstest schon mit Maßband, Waage und Körperfett­-Zange Bekanntschaft gemacht hat. Aus Körpergröße und Gewicht errechneten die Ärzte meinen Body-­Mass­Index, aus Bauch­ und Beckenumfang einen Taillen­-Hüft-­Quotienten von 0,77. Und die Caliperzange biss schonungslos in jede noch so kleine Speckrolle an Trizeps, Bizeps, Brust, Bauch, Oberschenkel, Achselhöhle, Schulterblatt und Taille. Acht Werte, aus denen sich danach mein Gesamtkörperfettanteil ergab. Was ebenfalls zum Basis­-Check gehört: eine Blutanalyse, die Messung des Blutdrucks in Ruhe und ein sogenanntes Ruhe­-EKG, bei dem Elektroden auf dem Oberkörper die elektrische Aktivität des Herzmuskels im Liegen messen.

Heraus kommt eine Kurve mit regelmäßigen Zacken – doch meine hat eine zu viel. „Das ist ein inkompletter Rechtsschenkelblock“, sagt Dr. Annika Hackemann, die mit mir das EKG ­bespricht. Sie deutet mit der Spitze ihres Kugelschreibers auf eine kleine Zacke am Ende jedes Herzschlages. Wie bitte? Bin ich doch nicht sporttauglich? Ist mein Herz krank? Dr. Hackemann, selbst Radfahrerin, beruhigt mich: „Das haben Sportler oft. Durch das regelmäßige Ausdauertraining wird die rechte Herzhälfte mehr beansprucht als bei Nichtsportlern. Dies führt zu Veränderungen im EKG.“ Ein Drittel aller Ausdauersportler, lese ich später, weist aufgrund des regelmäßigen Trainings solche EKG­Veränderungen auf. Der inkomplette Rechtsschenkelblock, wie ich ihn habe, ist häufig, aber harmlos. Zum Glück zeigt auch die abschließende Ultraschall­-Untersuchung, dass mit meinem Herzen alles in Ordnung ist.

Bei Radrennen im Mittelfeld

Doch wie fit ist es nun, mein Herz? Wie trainiert ist mein Stoffwechsel in der Muskulatur? Meine sogenannte anaerobe Schwelle, das hat die schweißtreibende Ergometer­-Fahrt ergeben, liegt derzeit bei schlappen 137 Watt. Wenn ich die trete, zirkulieren in jedem Liter meines Bluts konstant zwei Millimol Laktat. Eine Belastung, die ich eine Weile durchhalten könnte. Damit bin ich zwar fitter als 93 Prozent der Frauen in meinem Alter, versichert mir Sportmedizinerin Dr. Esefeld bei der Abschlussbesprechung. Verglichen mit Radsportlerinnen, die Rennen fahren, ist das jedoch gerade mal „im Mittelfeld“.

Um weiter vorn zu landen, empfiehlt mir Dr. Esefeld drei bis vier Trainingseinheiten pro Woche, davon zwei im Grundlagenbereich, eine gespickt mit Intervallen. „Wenn man sich verbessern will, muss man schon jeden zweiten Tag einen Reiz setzen“, sagt sie. Ich bin hoch motiviert, das zu tun. Und mein Herz, das weiß ich nun, wird gefahrlos mitmachen. In ihrem Bericht zur Untersuchung bestätigt Dr. Esefeld schwarz auf weiß: „Aus sportkardiologischer Sicht bestehen keine Einwände gegen die Fortführung des Trainings.“ Na, dann: los!

 

 

Über unsere Autorin

 

SINA HORSTHELMKE

Schwerpunkte:
Medizin, Sport, Outdoor, Biologie

Qualifikation:
Biologie-Studium (Diplom)
Master in Health and Medical Management

Auszeichnungen:
Journalistenpreis „Abdruck“ der Initiative proDente e. V.

 

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    Kathrin Schwarze-Reiter
  • Focus: Querschnittslähmung heilen? 17. Juni 2019
    Fortschritt für Gelähmte Wird die Sportlerin Kira Grünberg trotz verletzten Rückenmarks je wieder laufen? Die Forschung lässt hoffen Narbengewebe hindert durchtrennte Nerven, wieder zu wachsen. Die Spritze mit intrazellulärem Sigma-Peptid (ISP) überwindet diese Blockade. 21 von 26...
    Kathrin Schwarze-Reiter

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