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Focus Gesundheit: Ein (fast) normales Leben

Neue Medikamente bremsen das Fortschreiten der multiplen Sklerose. Trotz ihrer Einschränkungen bewahren sich viele Patienten einen aktiven Alltag.

 

TEXT: STEFAN SCHWEIGER

MEDIUM: FOCUS GESUNDHEIT

Jetzt erst recht. Dieser Satz fällt häufig, wenn man sich mit Tanja Landmann unterhält. Kräftig tritt sie in die Pedale ihres Fahrrads, die kleine Anhöhe im Park hinauf. Drei Räder hat das Gefährt. Ein „Behindertenrad“ ist es aber nicht, darauf legt die Münchnerin Wert. Auf der Vorderachse ist eine hölzerne Box montiert, darin die Hundedame Alice und Landmanns Gehstock.

Solange es noch geht. Dieser Satz ist für Tanja Landmann untrennbar mit dem „Jetzt erst recht“ verbunden. Er beschreibt die harte, aber realistische Perspektive einer 34-jährigen Frau, die an multipler Sklerose leidet. Von „meiner MS“ spricht Tanja Landmann wie von einem Begleiter, der sich am 8. Oktober 2003, ihrem „Jubiläumstag“ der Diagnose, ungefragt an ihre Fersen geheftet hat und nicht mehr aus ihrem Leben verschwindet.

Landmann war damals 23 Jahre alt. Sie hatte plötzlich Doppelbilder gesehen. Der Verdacht auf einen Hirntumor erhärtete sich nicht. Dafür die Diagnose MS. Beim Gehen stützt sich Landmann auf den Stock, das Gleichgewichtsgefühl ist aus dem Takt geraten. Am meisten nervt sie das Augenzittern. Ein ruhiger Horizont zittert im Blickfeld wie bei einem Erdbeben. Multiple Sklerose ist nach der Epilepsie die zweithäufigste neurologische Erkrankung im jungen Erwachsenenalter. 130 000 Menschen leiden in Deutschland unter der Autoimmunerkrankung, mindestens doppelt so viele Frauen wie Männer. Die meisten sind zwischen 20 und 40 Jahre alt, wenn sich die Symptome erstmals bemerkbar machen: eine Lebensphase, in der die jungen Patienten die Weichen für ihr späteres Leben stellen. Karriere machen, eine Familie gründen, ein Haus bauen.

Plötzlich wird das Immunsystem, das eigentlich Bakterien und Viren abwehren soll, selbst zum Aggressor. Aus noch unbekannten Gründen dringen T-Zellen, weiße Blutkörperchen des Immunsystems, in Gehirn oder Rückenmark ein. Eine fehlgeleitete Abwehrreaktion verursacht an den Nervenfasern stecknadel- bis euromünzengroße Entzündungen. Die Myelinschicht, die die Nervenbahnen wie eine Isolierhülle umgibt, wird zerstört. Die Reizweiterleitung gerät ins Stocken. Muskeln am Ende der betroffenen Nervenbahn erhalten nur noch unvollständige Signale.

Nach der Diagnose schaltete Tanja Landmann um auf „Jetzt erst recht“. Sie ging als Tourmanagerin einer Band auf Welttournee. Als selbstständige Office Managerin zog sie große Kunden an Land. Sie ritt halb professionell, war oft beim Klettern. Ohne Sicherungsseil. „Das waren meine erfolgreichsten Jahre“, sagt sie. „Man sah mir meine Krankheit ja nicht an.“ Im Hinterkopf war aber immer die Frage: „Wie lange noch?“ Schubweise hatte sie mehr Probleme beim Laufen. Irgendwann kaufte sie den Stock. Die Brillengläser wurden dicker.

So verschieden die Symptome von Patient zu Patient sind, so unterschiedlich verläuft auch die Krankheit. Manche sind schon bald auf einen Rollstuhl angewiesen. 30 Prozent der Betroffenen haben dagegen lebenslang kaum sichtbare Beschwerden. „Den durchschnittlichen MS-Patienten gibt es nicht“, sagt Tjalf Ziemssen, Leiter des Multiple Sklerose Zentrums am Universitätsklinikum Dresden. Für eine exakte Prognose seien die Verläufe individuell zu unterschiedlich. „Statistische Spielchen bringen den Patienten nichts.“ Mit dieser Ungewissheit umzugehen sei für viele Patienten mindestens so belastend wie die körperlichen Beschwerden selbst, weiß der Neurologe und Psychiater Martin Meier. Die Marianne-Strauß-Klinik am Starnberger See ist die einzige deutsche Fachklinik für multiple Sklerose. Meier leitet dort eine Station, die die Patienten auch neurologisch-psychiatrisch betreut. Viele würden nach der Diagnose in eine Depression rutschen, sagt Meier. Andere leiden unter dem Fatigue-Syndrom, also schweren Erschöpfungszuständen, körperlich wie seelisch. Dann heißt es, die eigenen Leistungsgrenzen neu festzulegen.

Mit den Patienten konzentriert sich Meier nicht nur auf die Defizite, sondern vor allem darauf, welche Fähigkeiten sie trotz ihrer Krankheit noch haben: „Am wichtigsten ist es, die Kontrolle über das eigene Leben aufrechtzuerhalten.“ Auch Stefan Hausner lernte dort, sich nicht vollständig von der Krankheit dominieren zu lassen. Der 32-jährige Informatiker läuft mit der Geschwindigkeit eines gemächlichen Spaziergangs. Schneller geht es nicht. „Aber ich kann laufen“, sagt er. Stefan Hausner erhielt die MS-Diagnose im Sommer 2007. Immer wieder war eines seiner Beine taub, es fühlte sich dumpf an, als ob es eingeschlafen wäre. Der Münchner versuchte trotzdem, aufs Fahrrad zu steigen, stürzte und brach sich das andere Bein. Mit Krücken konnte er nicht laufen, das taube Bein machte nicht mit. Nach neurologischen Tests wurde Hausner in den Magnetresonanztomografen (MRT) geschoben. „Löchrig wie ein Käse“ sei sein Gehirn auf den Aufnahmen gewesen. Gehen Nervenzellen unter, hinterlassen die Entzündungsherde in der Hirnsubstanz Verhärtungen, die sogenannte Sklerose. Auf den MRT-Bildern sind das weiße Punkte. Letzte Gewissheit brachte eine Untersuchung des Nervenwassers, das ihm aus dem Wirbelkanal entnommen wurde. „Wie in einem Mosaik setzt sich aus mehreren Untersuchungen ein klares Bild zusammen“, erklärt Reinhard Hohlfeld, Direktor am Institut für Klinische Neuroimmunologie am Universitätsklinikum der LMU München.

Das Bild von Stefan Hausners Zukunft zeigte für ihn damals vor allem einen Rollstuhl. Nach wie vor verbinden viele Menschen die Krankheit MS vorerst mit schwerer Behinderung. Doch diese Vorstellung entspricht den begrenzten therapeutischen Möglichkeiten der Vergangenheit. „Es ist noch nicht lange her, da war die multiple Sklerose tatsächlich therapeutisches Niemandsland“, erinnert sich Hohlfeld. Bei einem akuten Schub verschrieben Ärzte hochdosierte Cortisonpräparate, um die Entzündungen zu stoppen. Das ist bis heute die gängige Therapie während eines Schubs. Bis in die 90er-Jahre gab es aber kein Medikament, um die Entzündungsschübe möglichst ganz zu verhindern.

Das änderte sich, als der Wirkstoff Beta-Interferon für MS zugelassen wurde. Diese Medikamente drosseln die Produktion von entzündungsauslösenden Stoffen. Wenn es anschlägt, sind Schübe bis zu 30 Prozent seltener. Zuletzt geriet Interferon aber in die Kritik, weil es das Risiko für Nierenschäden erhöhen soll. Stefan Hausner setzte sich alle zwei Tage eine Spritze in den Oberschenkel oder den Bauch, spürte aber vor allem Nebenwirkungen wie Fieber und Kopfschmerzen. Trotz Beta-Interferon hatte er bis zu fünf Schübe pro Jahr: taube Beine, Doppelbilder, Probleme mit der Blase.

In solchen Fällen gehen Ärzte von der Basis- zur Eskalationstherapie über. Fünf Jahre lang erhielt Hausner anschließend monatlich eine Infusion mit dem Wirkstoff Natalizumab. Der monoklonale Antikörper soll verhindern, dass Leukozyten die Blut-Hirn-Schranke passieren und in das Nervensystem eindringen. Seitdem hatte Hausner keinen Schub mehr.

Gegen keine andere neurologische Erkrankung wurden in den vergangenen Jahren so viele neue Substanzen zugelassen wie gegen MS. „Die Erkrankung ist ein lukrativer, hart umkämpfter Markt für die Pharma-Industrie“, berichtet Neurologe Ziemssen. „Die Patienten sind jung und ihr restliches Leben auf Medikamente angewiesen.“ Natalizumab greift aber tief in das Immunsystem ein. Mit jedem Therapiejahr steigt das Risiko für eine oft tödlich verlaufende Infektion des Nervensystems. „Je besser ein Medikament gegen die MS wirkt, desto schwieriger ist das Management der Therapie“, sagt Ziemssen. Am besten seien die Patienten dann an spezialisierten Zentren aufgehoben.

Stefan Hausner versucht es nun mit Fumarsäure, ursprünglich zur Behandlung der Schuppenflechte entwickelt. Sie programmiert Zellen des Immunsystems um und soll so Entzündungen im Gehirn verhindern. Zwei Tabletten pro Tag sind zudem angenehmer als Spritzen oder Infusionen. Die Hälfte der Schübe kann Fumarsäure laut Studien verhindern. Ein ähnlich erfolgreicher neuer Wirkstoff ist Alemtuzumab. Ähnlich wie bei einer Chemotherapie reduziert er die Zahl der T-Lymphozyten drastisch. Auch Alemtuzumab ist ein wissenschaftlicher Zufallsfund, zuvor wurde es gegen eine spezielle Form der Leukämie eingesetzt.

Wichtig ist, dass die Patienten möglichst früh die richtigen Medikamente erhalten, bevor bleibende Schäden entstehen. „Leider kommen die Patienten erst zu uns, wenn die Kaskade bereits begonnen hat“, sagt der Münchner Neurologe Hohlfeld. Ihn ärgert es, dass die Wirkstoffe nach wie vor nicht an der Wurzel der Krankheit ansetzen. „Wir können MS bis heute nicht heilen, sondern nur im Verlauf abmildern.“ Wo der Auslöserknopf sitzt, der die T-Zellen plötzlich gegen den eigenen Körper aufhetzt, weiß die Forschung bis heute nicht. Genau dahin möchte Hohlfeld aber vordringen.

Wissenschaftler vermuten, dass ein Mangel an Vitamin D das MS-Risiko erhöhen könnte. Das Hormon bildet sich unter Sonneneinstrahlung in der Haut. Das würde erklären, warum der Anteil der MS-Patienten in Regionen niedriger ist, die näher am Äquator liegen. Sicher sei nur, dass es eine Mischung aus genetischen Faktoren und Umweltbedingungen ist, die die Krankheit in Gang setzt, sagt Hohlfeld. Der Einfluss der Genetik sei geringer als einst gedacht. Das weiß man aus Untersuchungen von eineiigen Zwillingspaaren. „Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Geschwister an MS litten, liegt unter 30 Prozent.“

Hohlfeld sucht nach Auslösern im Darm, genauer in den Milliarden winziger Mikroben, die die Darmflora bilden. Schon länger stehen die Darmbewohner im Verdacht, das Immunsystem entscheidend zu beeinflussen. Am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München züchtete Hohlfelds Kollege Hartmut Wekerle genetisch veränderte Mäuse. „Sie entwickelten nur dann eine der menschlichen MS ähnliche Entzündung im Gehirn, wenn sie unter normalen Umweltbedingungen gehalten wurden, also eine normal ausgeprägte Darmflora besaßen“, erklärt Hohlfeld. Wuchsen die Mäuse hingegen unter keimfreien Bedingungen auf, blieben sie gesund. Die Forscher möchten herausfinden, was die Darmflora gesunder Menschen von der MS-Kranker unterscheidet. Hierfür untersuchen sie Stuhlproben von eineiigen Zwillingspaaren. Jeweils ein Geschwister leidet an MS. Das langfristige Ziel ist, eine bestimmte Diät oder Medikamente zu finden, die eine gesunde Darmflora fördern.

Zwar sind noch viele Fragen unbeantwortet. Hohlfeld ist aber zuversichtlich, dass junge Patienten wie Stefan Hausner und Tanja Landmann dank ihrer Jugend noch von Erfolgen der Forschung profitieren werden. Darauf allein will sich die 34-Jährige aber nicht verlassen. Sie hat gelernt, mit ihren Einschränkungen gut zu leben. Einst war Multitasking die Stärke der Münchnerin. Heute konzentriert sie sich auf das Wesentliche. Wird es ihr zu viel, legt sie eine Ruhepause bei einer Tasse Tee ein. „Ich hadere nicht“, sagt sie. „Dafür habe ich keine Zeit.“

Über unseren Autor

 

STEFAN SCHWEIGER

Schwerpunkte:
Gesundheit, Medizin, Digitalisierung, Psychologie, Gesundheitspolitik, Musik, Suchmaschinenoptimierung (SEO)

Qualifikation:
Diplom-Soziologe (LMU München & Université Paris V, Nebenfächer Politik & Volkswirtschaftslehre)
42. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule

Auszeichnungen:
Medienpreis Print der Deutschen Depressionshilfe

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