Rainer und René steckt die Krankheit ihrer Mütter in den Genen. „Chorea Huntington“ wird sie erst um den Verstand und dann umbringen. Wie fühlt es sich an, sein Ende zu kennen?
TEXT: NINA HIMMER
MEDIUM: 1890 MAGAZIN
René wartet. Wenn er sich die Zähne putzt. Wenn er den Tisch deckt. Wenn er spazieren geht, mit Freunden unterwegs ist oder ein Computerspiel zockt. Er wartet darauf, dass ihm ein Glas durch die Finger rutscht, das Handy aus der Hand fällt, er stolpert oder schwankt. Darauf, dass ihn jemand komisch ansieht oder fragt, ob er betrunken sei. René, 31 Jahre alt, wartet auf die ersten Anzeichen.
Das Unvermeidliche sitzt auf Chromosom vier. Es ist ein Gen, das alle Menschen in sich tragen und das bei einigen zu lang geraten ist. Eine Art Schreibfehler im Erbgut sorgt dafür, dass sich die Basenpaare auf einem bestimmten Abschnitt zu oft wiederholen. Diese Mutation löst Chorea Huntington aus, eine Nervenkrankheit, die Gehirnzellen zerstört. Wer sie hat, verliert nach und nach die Kontrolle über seine Bewegungen, Sprache und sein Verhalten. Meist treten erste Symptome zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr auf, durchschnittlich 15 Jahre später sterben die Erkrankten. Heilung gibt es bis heute keine.
„Bei meiner Mutter ging es schneller“, sagt René und versinkt in den braunen Lederpolstern seiner Couch. Er redet ungern über Vergangenes. Vielleicht, weil für ihn die Zukunft darin steckt. Das Schicksal seiner Mutter wird auch ihn ereilen – er hat ihre Krankheit geerbt.
Erinnerungen an sie als gesunde Frau hat er kaum. Stattdessen denkt er an das Gerede der Leute im Dorf, das Verschwinden des Vaters, die Verzweiflung seiner Tante und den körperlichen Verfall seiner Mutter. Auch den Tag kurz vor seinem elften Geburtstag wird er nicht vergessen: Seine Mutter kam in ein Heim und er in eine Pflegefamilie, „weil es einfach nicht mehr ging“.
Noch hat René den schlanken, muskulösen Körper eines Mannes, der stets mit den Händen gearbeitet hat. Dass sie ihm eines Tages nicht mehr gehorchen werden, ist kaum vorstellbar. Er redet leise und gestikuliert sparsam. Kein Zittern, keine Unsicherheit hat sich bisher in sein Auftreten geschlichen. Eine Ahnung von Resignation, das schon. Er weiß, dass die Krankheit ihrem Namen irgendwann gerecht wird. „Chorea“ ist griechisch für „Tanz“ – eine Anspielung auf die unwillkürlichen Bewegungen der Erkrankten.
Rainer Wegener „tanzt“ schon seit einer Weile. Auch er erbte Huntington von seiner Mutter. Wegener ist gerade 50 geworden: Ungeplant standen seine Wanderkumpels vor der Tür, um bis in die Nacht mit ihm zu feiern. „Ganz spontan“, sagt er. Cappuccino tropft auf seinen Küchenboden. Er schaut auf seine Hände, die den Löffel nicht ruhig halten können. „Eigentlich wollte ich keine Party. Ich dachte, es geht nicht mehr.“
Wegener klingt, als habe er sich mit seinem Schicksal arrangiert. Seit seinem 31. Lebensjahr kennt er es. Er weiß, dass die Krankheit sein Hirngewebe angreifen, ihm seine Bewegungsfähigkeit und Persönlichkeit rauben wird. Am 27. November 1995 machte er als einer der ersten in Deutschland einen Huntington-Gentest. Es braucht nur ein paar Tropfen Blut, um zu erfahren, ob und wie schwer einen die Krankheit treffen wird. Rainer Wegener wollte Gewissheit. „Als junger Mann war ich überzeugt davon, gesund zu sein.“ Das Risiko, die Krankheit zu erben, liegt bei 50 Prozent. Als er den Befund drei Monate nach dem Test von einer Ärztin erfährt, bricht eine Welt zusammen: „In dem Moment war ich tot. Meine Zukunft fühlte sich auf einmal bleischwer an.“
Mit einem Freund fährt Wegener nach dem Kliniktermin in eine Kirche. Stundenlang sitzt er in dem stillen Gotteshaus und horcht in sich hinein. „Ich hatte Bilder vor meinem inneren Auge, herrliche Landschaften, pure Natur – ich wusste, ich will verreisen.“ Als er die Kirche verlässt, treibt ihn ein Gedanke: „Gott ist tot, es lebe Rainer.“ Er will sein Leben selbst gestalten. Die Zeit nutzen, die bleibt. Wenige Wochen nach der Diagnose kündigt er seinen Job als Sozialarbeiter, vermietet seine Wohnung und fliegt nach Alaska. Wenn er heute davon erzählt, kommen die Worte atemlos und abgehackt aus seinem Mund. Manchmal bleiben sie darin stecken. Dann legt er die Hände an die Schläfen und denkt nach: über einen fehlenden Begriff, einen plötzlich verflogenen Gedanken, eine Erinnerung.
Auch für René war der Test reine Formsache. Kurz nach seinem 18. Geburtstag fährt ihn sein Pflegevater in die Klinik. René macht zu dieser Zeit eine Ausbildung zum Maschinenbaumechaniker, geht viel feiern und mit Mädchen aus. „Ich wollte einfach nur die Bestätigung, gesund zu sein.“ In den Wochen nach der Blutabnahme denkt er kaum an den Test. Dafür hat sich das Gesicht der Ärztin in sein Hirn gebrannt, als sie ihm mitteilt, wie viele Wiederholungen er auf dem betroffenen Genabschnitt hat. 20 bis 30 sind normal, 35 kritisch, ab 40 wird man an der Krankheit sterben. René hat über 50. Nur rund 8000 Menschen in Deutschland haben mehr als 40. René faltet das Papier mit dem Ergebnis zusammen und steckt es in seine Hosentasche. Er weint nicht. Er schreit nicht. Er tut nichts. Aber als er die Klinik verlässt, ist er ein anderer Mensch.
Diese Erfahrung teilen beide Männer. Der Glaube, gesund zu sein. Der Schock, das Gegenteil zu erfahren. Und das Wissen, am Krankenbett der Mutter einen Blick in die eigene Zukunft geworfen zu haben. Hier enden die Gemeinsamkeiten. Für den einen beginnt nach dem Test das Leben. Für den anderen die Leere.
Anfangs versucht René, sie zu ignorieren. Dann tut er alles, um sie auszufüllen. „Ich war nächtelang unterwegs, habe Drogen genommen, drei Kinder gezeugt und eine desaströse Beziehung geführt.“ Doch irgendwann ist die Party vorbei, das Bett leer und die Wirkung der Pillen verflogen. Nur das Testergebnis bleibt. Mit 27 Jahren versucht René, aus seinem Schicksal zu springen. 30 Meter tief, einen Steinbruch hinab. Sein letzter Gedanke: „Jetzt oder später, ist doch egal.“ Er ist ihm seitdem oft gekommen, aber einen Selbstmordversuch unternahm er nicht mehr. René überlebt den Sturz, weil ihn Felsvorsprünge bremsen. Als er auf dem Boden aufschlägt, sind unzählige Knochen hin, doch sein Handy hat keinen Kratzer. „Ich habe an meine Kinder gedacht und Hilfe gerufen.“ Er verbringt Monate im Krankenhaus, allein sein Rücken ist an drei Stellen gebrochen. „Papa ist krank“, erklärt seine Exfreundin den Kindern, die Wahrheit sollen sie nicht erfahren. René erholt sich wieder, heute erinnern ihn nur noch einige Schrauben im Rücken an den Sprung. Er muss auf dem Bauch schlafen, dann hat er keine Beschwerden. „So viel Glück“, sagt er, „ist doch irgendwie ironisch.“
Jetzt, mit 31, lebt René das Leben eines alten Mannes. Im Herbst 2013 ist er in ein Wohnheim für Huntington-Kranke in der Nähe von Hamburg gezogen. Die Menschen um ihn herum sind älter und haben die Krankheit in einem fortgeschrittenen Stadium. Seine Tage bestehen aus Logopädie, Ergotherapie, Küchendienst und Langeweile. Er müsste nicht hier sein. „Aber es gibt mir die Sicherheit, mich um nichts kümmern zu müssen, wenn es so weit ist.“
Der verdammte Test. Wäre er ein glücklicherer Mensch, wenn er ihn nicht gemacht hätte? „Ich weiß es nicht.“ Wenn das Grübeln losgeht, setzt er seine Kopfhörer auf und geht spazieren. Max Herre, Gentleman, AC/DC. Aber wirklich vergessen kann er sein Schicksal nur, wenn er bei seinen Kindern ist. Doch Mia, Paul und Julius, zwischen sieben und elf Jahre alt, leben in Pflegefamilien, die Zeit mit ihnen ist knapp. Und wenn er nach Hause kommt, plagt ihn die Frage, ob es richtig war, sie in die Welt zu setzen.
Rainer Wegener hat sich zwei Jahre nach dem Test sterilisieren lassen. Entscheidungen wie diese ängstigen ihn nicht. Die Krankheit weiterzugeben, wäre für ihn ein unerträglicher Gedanke. Niemand soll erleben, was er mit seiner Mutter durchgemacht hat: die sechs Jahre Bettlägerigkeit, die Verwandlung einer liebevollen Mama in eine zornige, zynische Frau. Das Stehlen, Schreien, Ausrasten.
Wegener strahlt die Ruhe eines Menschen aus, der alles erledigt hat, was ihm wichtig ist. Er bereiste Nordamerika von Alaska bis San Francisco. Er unternahm unzählige Kletter-, Wander- und Fahrradtouren, schrieb ein Buch mit dem Titel „Getrieben – ein innerer und äußerer Reisebericht“ und fand in Berlin seine Heimat und eine Frau, die stark genug ist, ihn zu lieben. Er hat seinen Glauben an Gott durch jenen an Wissenschaft und Medizin ersetzt. Und er verschwendet keine Zeit mehr mit Menschen, die er nicht mag. „Ich bin glücklich“, sagt er, und wer mit ihm spricht, zweifelt nicht daran.
Natürlich wird es trotzdem schlechter. Neulich beim Bäcker haben sie ihn angemault, weil er das Kleingeld nicht schnell genug abzählen konnte. Und in letzter Zeit stürzt er oft. Mal in der Wohnung, dann fällt er vom Fahrrad. Ein Kratzer über dem rechten Auge ist noch frisch, ein blauer Fleck verblasst gerade. Manchmal hat er cholerische Anfälle. Ein falscher Blick oder fehlende Milch im Kühlschrank reichen in diesen Momenten, und er schreit und tobt. „Seit einem Dreivierteljahr nehme ich Antidepressiva dagegen, das hilft.“ Er schläft besser, ist ausgeglichener. Doch als Nebenwirkung hat er seine Potenz verloren.
Wegener hat seinen Frieden damit geschlossen, dass sein Spielfeld kleiner wird. Statt auf eine Fernreise freut er sich auf den Montagabend in der Pizzeria, die Zeit mit seinen Freunden oder seine Arbeit in einer sozialen Holz- und Restaurierungswerkstatt. Manchmal besucht er eine Selbsthilfegruppe, um anderen Mut zu machen. Und wann immer es geht, fährt er mit dem Rad ins Grüne. Doch auch die Großstadt weiß er zu schätzen: „Ich falle hier gar nicht so auf, es gibt in Berlin viel größere Freaks als mich.“
Während Rainer Wegener versucht, seine Tage so intensiv wie möglich zu füllen, wartet René weiter. Er glaubt, bald sei es so weit. Nicht, weil er irgendetwas merken würde. Es ist nur so ein Gefühl, dass der Tag naht, an dem ihm ein Missgeschick passiert. Eines, das in Wahrheit einen Wendepunkt markiert.
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